Rettungsplan für Europa

Hans-Werner Sinn

Rezensionen.ch, 19.11.2016.

Der Titel dieses Buches weckt zweifelsohne dunkle Assoziationen an den "Black Thursday", eine Bezeichnung für den 24. Oktober 1929 und den damit verbundenen folgenschwersten Börsencrash der Geschichte. Nach Meinung des Verfassers taumelt Europa schon seit einigen Jahren von einer Krise in die nächste, befindet sich derzeit in der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg und steht vor gewaltigen Herausforderungen. Allen Beschwichtigungen der Politiker zum Trotz verlieren Deutschland und die europäischen Staaten des Nordens durch den Euro seit Jahren Milliardenvermögen zugunsten der überschuldeten Volkswirtschaften Südeuropas. 2015 wurde der europäische Kontinent von einem kaum mehr beherrschbaren Flüchtlingsstrom überschwemmt und schließlich kam auch noch der schwarze Juni 2016 mit zwei fatalen Ereignissen: am 23. Juni gab Großbritannien sein Misstrauensvotum gegen die EU ab und entschied sich für den Austritt aus der EU. Und nur zwei Tage vorher unterwarf sich das deutsche Bundesverfassungsgericht mit seinem sog. OMT-Urteil zur ausufernden Rettungspolitik der EZB dem Europäischen Gerichtshof, der diese Politik vollauf unterstützte.

Für Hans-Werner Sinn, Professor für Volkswirtschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, langjähriger und außerordentlich erfolgreicher Präsident des renommierten ifo Instituts, der wie kein anderer die wirtschafts- und sozialpolitischen Debatten des letzten Vierteljahrhunderts in Deutschland geprägt hat, stellt der Juni 2016, bedingt durch das zeitliche Zusammentreffen beider Entscheidungen vor dem Hintergrund der Flüchtlingswelle und des Euro-Desasters, eine Zeitenwende dar, die sofortiges Handeln seitens der Politik erfordert. Der Autor hat - nach eigenen Angaben innerhalb kürzester Zeit - ein umfangreiches Buch mit beachtlicher Detailtiefe zu den wichtigsten aktuellen Problemen der EU verfasst. Er begnügt sich jedoch nicht mit der Beschreibung und Analyse der wichtigsten Probleme und Streitpunkte, sondern entwickelt konkrete Lösungen im Rahmen einer systematischen Reform-Agenda. Sinn ist davon überzeugt, dass Europa mit der Umsetzung des von ihm konzipierten Reformprogramms eine echte Chance haben wird, zu neuer Prosperität und einer nachhaltigen Entwicklung zurückzukehren, die helfen wird, seinen Frieden auch weiterhin zu sichern. Auch deswegen hat er dieses Buch den Bürgern Europas gewidmet.

Der erste Schwerpunkt des Buches widmet sich den Ursachen und Auswirkungen des Brexits. Sinn betont, dass die Entscheidung der Briten keineswegs aus einer Laune des Augenblicks, sondern u. a. einer in den vergangenen Jahren ständig zugenommenen Skepsis und einem deutlichen Misstrauensvotum gegenüber der EU und deren Führung entsprungen ist. Dabei ging es nicht nur um das starke Unbehagen über die Gängelung der Verbraucher durch die Brüsseler Politik (Stichwort: "Bürokratie"), sondern auch um handfeste Gefahren aufgrund der destabilisierenden Wirkungen, welche das fehlkonstruierte Eurosystem in Europa ausgelöst hat. Des Weiteren wurde von den Briten kritisiert, dass Großbritannien durch die gemeinsame Agrarmarktordnung benachteiligt wird. Dieses Regelsystem führte nicht nur zu hohen Subventionen für andere Länder, sondern hat traditionelle Handelsverbindungen in die Commonwealth-Gebiete erschwert, wenn nicht gar abgeschnitten. Nicht zuletzt aber wurde die Wahlentscheidung der Briten durch die unkontrollierte Massenimmigration von weit über einer Million Menschen in die EU stark beeinflusst. Frühere Immigrationswellen aus den Commonwealth-Ländern (in den 1950er- und 1960er-Jahren) und aus Osteuropa (Mitte der 2000er-Jahre) haben im Vereinigten Königreich bis zum heutigen Tag sichtbare Spuren hinterlassen, was z. B. die Beanspruchung von Sozialleistungen und die Herausbildung von ghettoähnlichen Stadtbezirken mit ethnischem und sozialem Sprengstoff angeht. So beeinflussten die Medienberichte über die chaotischen Verhältnisse beim Ansturm der Massen, auch über die Camps vor dem Eisenbahntunnel von Calais, vor allem die älteren Briten, für einen Brexit zu votieren.

Nach dieser Ursachenanalyse thematisiert der Autor die Folgen eines Austritts Großbritanniens, welcher eine erhebliche ökonomische und politische Schwächung der EU zur Folge haben wird. Sinn befürchtet, dass Schutzzölle und regulatorische Handelsbarrieren gegenüber Großbritannien durchgesetzt werden und insbesondere Länder wie Deutschland, Österreich, die Niederlande und Finnland, welche für ihren Wohlstand auf eine liberale und weltoffene Handelspolitik besonders angewiesen sind, darunter zu leiden haben. Aber es wird auch deutlich, dass das Vereinigte Königreich bei einem Austritt mit nicht wenigen Risiken und relativ nur geringen Vorteilen rechnen muss.

Einen weiteren Schwerpunkt des Buches bildet die politische, gesellschaftliche, ökonomische und soziale Analyse der Folgen der Flüchtlingswelle für die EU und insbesondere für Deutschland. Der Autor macht im Zusammenhang mit dem sog. Migrations-Trilemma deutlich, weshalb auch diesbezüglich die EU-Verträge falsch gestrickt sind, d. h. warum sich die drei hohen Ziele der EU, nämlich das Ziel der Freizügigkeit für EU-Bürger, das Ziel der Sozialstaatlichkeit und das Ziel der Inklusion der Migranten in das Sozialsystem des Gastlandes nicht gemeinsam realisieren lassen.

Bei den weiteren Themen, d. h. bei den finanz- und währungspolitischen Analysen, trifft man auf etliche Argumente, die man schon aus früheren Fachpublikationen des Autors kennt. Dennoch ist es zum Verständnis für die Gesamtproblematik und im Hinblick auf die vom Verfasser entwickelte Reformagenda wichtig, dass sich Sinn u. a. mit der wenig erfolgreichen Rettungsarchitektur für die Süd-Länder, dem sich abzeichnenden Weg in eine Haftungsunion sowie mit der Gigantomanie der EZB und den damit verbundenen Konsequenzen bzw. Gefahren, nicht zuletzt auch für Deutschland, ausführlich auseinandersetzt. In Anbetracht der endlosen Schuldenspirale in etlichen Ländern und der geradezu ostentativ zur Schau getragenen Missachtung der einschlägigen Stabilitätsregeln sowie angesichts des alle Dämme brechenden QE-Programms der EZB kann man dem Autor schwerlich vorwerfen, dass er institutionelle Fortschritte der vergangenen Jahre verkenne und einseitig negative Aspekte der Finanz- und Währungspolitik der EU und EZB betone.

Im letzten Kapitel macht Sinn deutlich, dass es zur europäischen Integration schon mit Blick auf den Aspekt der Friedenserhaltung keine Alternative gibt. Er konstatiert jedoch auch, dass es einerseits bei den Nationalstaaten derzeit keine Bereitschaft zu einer echten politischen Union gibt, andererseits Europa von einer Lösung seiner wohlstands- und friedensgefährdenden Probleme weit entfernt ist. Deshalb braucht es seiner Meinung nach einen grundlegend neuen Ansatz, der sich jedoch nicht innerhalb der bestehenden EU-Verträge realisieren lässt. Nach Ansicht des Autors muss Deutschland jetzt handeln, die Brexit-Verhandlungen mit Großbritannien nutzen und eine Änderung der EU-Verträge verlangen. Notfalls muss sogar mit einer Änderungskündigung der EU-Verträge gedroht werden.

Die von Sinn vorgeschlagenen Vertragsänderungen betreffen im Wesentlichen die Ziele "Gesundung des Euro", "Steuerung der Migration von innen und von außen" und "Stärkung des Subsidiaritätsprinzips". Diese Politikfelder bilden das Gliederungsmuster für seine insgesamt fünfzehn Reformvorschläge, die er jeweils näher begründet:
Atmende Währungsunion zur Gesundung des Euro: Die Eurozone wird zu einer atmenden Währungsunion umgewandelt, welche geregelte Ein- und Austritte für diejenigen Länder erlaubt, welche ihre Wettbewerbsfähigkeit verloren bzw. wiedererlangt haben.
Konkursordnung für Staaten: In Erfüllung der bereits vorhandenen EU-Verträge sind Regeln für den geordneten Konkurs eines Staates zu schaffen, um diesen in die Lage zu setzen, anschließend wieder wettbewerbsfähig und kreditwürdig zu werden.
Geldpolitik der EZB mit minimalem Risiko: die EZB darf im Rahmen ihres Mandats nur noch erstrangige Wertpapiere mit einem AAA-Rating am offenen Markt kaufen. Refinanzierungskredite müssen ebenfalls mit solchen Wertpapieren besichert werden.
Tilgung der Target-Verbindlichkeiten durch Gold: Nationale Notenbanken dürfen nur noch im Verhältnis zur Landesgröße Geld durch die Kreditvergabe an die nationale Volkswirtschaft schöpfen. Weichen sie von dieser Regel ab, müssen sie diese Verbindlichkeiten jährlich durch die Hergabe von Gold oder erstklassig besicherten Staatsanleihen tilgen.
EZB-Stimmrechte nach der Haftung und Größe der Mitgliedsländer: Die Stimmrechte im EZB-Rat werden nach der Größe der Haftung der Länder vergeben, die selbst wiederum gemäß der Landesgröße verteilt ist. Entscheidungen des EZB-Rates, die fiskalischen also potenziell umverteilenden Charakter haben, sind mit einer Mehrheit von 85% der Stimmen zu treffen.
Heimatland- statt Gastlandprinzip für bedürftige EU-Bürger: EU-Bürger und Bürger aus Ländern, die mit der EU assoziiert sind, erwerben das Anrecht auf soziale Leistungen eines Landes (nur) durch Geburt oder durch die Zahlung von Steuern und Sozialbeiträgen.
Inklusion der Asylanten, aber Asylanträge außerhalb der EU-Grenzen: Anerkannte Asylbewerber werden wie einheimische Staatsbürger in das Sozialsystem der Gastländer integriert, solange der Asylgrund besteht. Die Asylanträge sind allerdings außerhalb der EU-Grenzen zu stellen und nach einem für alle EU-Länder einheitlichen Verfahren zu entscheiden.
Grenzsicherung als EU-Aufgabe: Die EU-Länder sichern ihre Grenzen gemeinschaftlich, so dass sie eine praktisch lückenlose Kontrolle über die Immigration haben. Auch die Schengenländer sichern ihre Außengrenzen.
Hilfen für schwächer entwickelte EU-Nachbarstaaten: Die EU integriert sämtliche schwächer entwickelte Anrainerstaaten in ein Abkommen über Freihandel und freien Kapitalverkehr mit dem Ziel, diesen Ländern eine gute Chance für einen raschen wirtschaftlichen Aufschwung zu geben und den Migrationsdruck zu senken. Außerdem organisiert sie ein spezielles Entwicklungshilfeprogramm für diese Länder.
Aussetzung des Mindestlohns, aber "Aktivierende Sozialpolitik": Der Mindestlohn wird für Berufsanfänger für fünf Jahre ausgesetzt, und zwar unabhängig davon, ob es sich um Einwanderer oder Einheimische handelt. An die Stelle des Mindestlohns tritt eine "Aktivierende Sozialpolitik" mit Lohnzuschüssen.
Punktesystem für hoch qualifizierte Migranten: Die EU-Länder erlauben die Einreise von hoch Qualifizierten nach einem Punktesystem, das sich am kanadischen Muster orientiert, doch auch jeweils auf den nationalen Bedarf an Arbeitskräften ausgerichtet ist. Abgelehnte Asylbewerber erhalten auf der Basis eines solchen Punktesystems eine zweite Chance auf ein dauerhaftes Bleiberecht im Gastland.
Freihandel und freier Kapitalverkehr ohne Arbeitnehmer-Freizügigkeit - Regeln für assoziierte EU-Mitglieder: Die EU sollte mit jenen Nachbarländern, die wirtschaftlich stark sind, aber nicht zur EU gehören wollen, den Status eines assoziierten Mitglieds anbieten, der durch einen völligen Freihandel mit Gütern und Dienstleistungen sowie einen freien Kapitalverkehr gekennzeichnet ist, jedoch nicht auch einen freien Personenverkehr.
Europaweite Netze: Die europaweiten Netze im Bereich des Internet, der Telefonie, der Straßen und Schienen sowie des Strom- und Gasverbunds werden weiter ausgebaut.
Ein europäischer Subsidiaritätsgerichtshof: Dieser Vorschlag geht im Wesentlichen auf den ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog zurück. Der Subsidiaritätsgerichtshof hat die Aufgabe, EU-Projekte, EU-Verordnungen und EU-Richtlinien daraufhin zu überprüfen, ob sie dem Subsidiaritätsprinzip des EU-Vertrages entsprechen.
Gemeinsame Armee und Sicherheitspolitik: Die EU-Länder legen ihre Armeen zusammen, stellen sie unter ein einheitliches EU-Kommando und vereinheitlichen die mit der Verteidigung verbundene Beschaffungspolitik. Sie koordinieren ihre Polizei- und Sicherheitsdienste und normieren und verbessern die Kommunikation zwischen ihnen.

Für alle an Europa Interessierten lohnt sich die Lektüre dieses gelungenen Werks. Die ersten beiden Auflagen waren schon kurz nach Erscheinen des Buches vergriffen. Das zeigt, dass Europa den Europäern offenbar nicht gleichgültig ist. Jetzt bleibt nur zu hoffen, dass die Politik nicht die oftmals so beliebte Option "Weiterwursteln wie bisher" verfolgt, sondern die Vorschläge von Hans-Werner Sinn aufgreifen wird, um die angeschlagene Europäische Union zu retten.