Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. November 2013, Nr. 260, S. 14.
Manchmal werden die Vorteile der Zinssenkung für Deutschlands Kreditnehmer betont. Doch ist Deutschland per Saldo ein Nettogläubiger des Restes der Welt. Daher ist unser Land der große Verlierer der Zinssenkung, die Krisenländer sind klare Gewinner. Eine Anmerkung zur Target-Problematik.
Ist Deutschland der große Target- Gewinner? Mein Kollege Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) meint das. Seine Stellungnahme veranlasst mich, hier noch einmal grundsätzlich zu der Target-Problematik Stellung zu nehmen — zweieinhalb Jahre nachdem ich meinen ersten Beitrag in der FAZ. dazu schrieb, der eine inzwischen nicht mehr überschaubare wissenschaftliche und öffentliche Diskussion ausgelöst hat.
Zunächst einmal freut es mich, dass die Phase, während der deutsche Politiker die Krediteigenschaft der Target-Salden leugnen und von „irrelevanten Salden" reden konnten, heute endgültig vorbei ist. Es ist nicht mehr strittig, dass die Target-Salden die zusätzlichen Refinanzierungskredite widerspiegeln, die die Zentralbanken der Krisenländer ihren Banken geben durften, nachdem der EZB-Rat die Qualitätsanforderungen für die dabei von den Banken einzureichenden Pfänder immer weiter gesenkt und dadurch immer mehr Spielraum für solche Kredite geschaffen hatte. Dabei handelt es sich um öffentliche Kredite, die über die Eigenversorgung der Linder mit Liquidität hinausgingen und dazu dienten, Leistungsbilanzsalden zu bezahlen, Auslandsschulden zu tilgen oder auch Wertpapiere, Immobilien oder Firmen in anderen Ländern zu kaufen. Was vorher durch private Auslandskredite finanziert wurde, wurde durch die Kredite des EZB-Systems ersetzt.
Die Überweisung des neu geschaffenen Geldes aus den Krisenländern zwang die Zentralbanken der Empfängerländer, den eigenen Geldverleih zu reduzieren beziehungsweise hinzunehmen, dass die Banken das überschüssige Geld bei ihnen verzinslich anlegten und damit aus dem Verkehr nahmen. Zum Ausgleich erhalten sie eine verzinsliche Forderung gegenüber dem EZB-System, während die Zentralbanken der Länder, die das zusätzliche Geld verliehen, eine entsprechende Verbindlichkeit aufbauen. Etwa 80 Prozent der Zentralbankgeldmenge des Eurosystems sind durch Kredit- oder Offenmarktoperationen der Notenbanken der sechs Krisenländer (Griechenland, Italien, Portugal, Spanien, Irland, Zypern) entstanden, obwohl diese Länder nur ein Drittel der Wirtschaftskraft des Euroraums auf sich vereinen. Entsprechend groß ist der Anteil der Zinseinnahmen des Eurosystems, der in den Krisenländern entsteht und dann an die Finanzministerien der Mitgliedsländer in Proportion zur Landesgröl3e verteilt wird. In Deutschland gibt es per Saldo nur noch Zentralbankgeld, das durch bloße Überweisumsaufträge aus dem Ausland in Umlauf 'kam, und alle Zinstransfers der Bundesbank an das Finanzministerium stammen aus dem Ausland.
Eine bildliche Metapher der elektronischen Zahlungsvorgänge, die hinter den Target-Salden stehen, lautet so: Der Süden druckt sich das Geld, das er braucht, um im Norden Güter und Vermögensobjekte zu kaufen sowie alte Schuldscheine einzulösen, und die Notenbanken des Nordens schreddern das vorher schon ausgegebene Geld, weil es als Schmiermittel für die inländischen Transaktionen nicht mehr benötigt wird. Es wird also quasi die (elektronische) Druckerpresse vom Norden an den Süden verliehen, was die Target-Forderungen und -Verbindlichkeiten begründet.
Der Verleih der Druckerpresse impliziert erhebliche Haftungsrisiken. Sollte der Euro zerbrechen, lösen sich die Target- Forderungen in Luft auf, während die Schuldscheine, Vermögensobjekte und Güter, die gegen das aus dem Ausland überwiesene Geld verkauft wurden, im Ausland verbleiben.
Strittig, ist heute nicht mehr der Sachverhalt, sondern nur noch, was mit den Sonderkrediten aus der Druckerpresse finanziert wurde. Marcel Fratzscher meint, Deutschlands Target-Forderungen, die heute bei 570 Milliarden Euro stehen, seien vor allem durch den Rückruf von 400 Milliarden Euro an privatem Kapital entstanden, das durch die Refinanzierungskredite der nationalen Notenbanken, also das in den Krisenländern neu geschaffene Geld, ersetzt wurde. Er spricht von „Fluchthilfe", denn ohne dieses Geld hätten die Krisenländer den Kapitalrückruf gar nicht finanzieren können.
Die Fluchthilfe-Interpretation, die mein Kollege Timo Wollmershäuser und ich in unserem wissenschaftlichen Basisaufsatz zur Target-Problematik auch schon betont hatten, beschreibt Effekte, wie sie im Verlauf der Krise bei einzelnen Krisenländern temporär auftraten. Sie erklärt jedoch nicht den Aufbau der deutschen Target-Salden, und selbst wenn sie ihn erklären würde, wäre es nicht die Aufgabe der EZB gewesen, die deutschen Banken und Finanzinstitute vor Verlusten zu schützen. Solche fiskalischen Hilfsmaßnahmen sind Aufgabe der Finanzminister und nicht des EZB-Rates.
Das DIW berichtet, dass Kapital im Umfang von etwa 400 Milliarden Euro aus den Krisenländern nach Deutschland floh. Das liegt in der gleichen Richtung wie ifo-Zahlen, die das DIW dazu dankenswerterweise zitiert. Allerdings handelt es sich dabei, was auch Fratzscher erwähnt, um einen Bruttobetrag. Netto haben private Kapitalanleger nach derzeitigem Datenstand vermutlich sehr viel weniger (nach noch unvollständigen DIW-Berechnungen nur etwa 200 Milliarden Euro) aus den Krisenländern nach Deutschland gebracht, denn private Anleger aus diesen Ländern haben das Gegengeschäft gemacht und viel Kapital aus Deutschland abgezogen. Sofern sich die Geschäfte saldierten, brauchten die Banken der Krisenländer dafür kein Geld aus der Druckerpresse, und es entstanden keine Target-Salden.
Aber nicht einmal der nach dieser Rechnung verbleibende Nettobetrag ist dem Zuwachs der deutschen Target-Salden zuzuordnen, weil das aus den Krisenländern zufließende Kapital meistens postwendend wieder in alle Welt hinausfloss. Nur das Jahr 2010 war eine Ausnahme; damals flossen den Privatsektoren Deutschlands netto knapp 100 Milliarden Euro zu. In der Summe der fünf Krisenjahre von 2008 bis 2012 hat Deutschland trotz der temporären und regional begrenzten Rückflüsse nach der Zahlungsbilanzstatistik der Deutschen Bundesbank netto für etwa 170 Milliarden Euro privates Kapital exportiert, also im Zuge einer Kreditgewährung oder für den Ankauf von Vermögensobjekten Geld ins Ausland überwiesen. Insofern kam es durch die privaten Kapitalbewegungen während der Krise für sich genommen nicht zu einem Aufbau, sondern zu einem Abbau von Target- Forderungen Deutschlands.
Hinter dem Aufbau der deutschen Target- Forderungen, der gleichwohl stattfand, steht nicht die Tilgung deutscher Kredite durch Ausländer, wie Fratzscher vermutet, sondern der Nettoexport von Gütern, die mit frischem Kreditgeld aus den ausländischen Druckerpressen bezahlt wurden. Der akkumulierte deutsche Leistungsbilanzüberschuss in den Jahren 2008 bis 2012, der 798 Milliarden Euro betrug, war zu drei Vierteln (585 Milliarden Euro) Target-finanziert, und 183 Milliarden Euro entfielen auf einen Nettokapitalexport in Form privater oder fiskalischer Mittel. Dabei handelt es sich um den erwähnten privaten Nettokapitalexport in Höhe von 170 Milliarden Euro und einen kleinen Posten öffentlichen Kredits in Form des ersten Griechenland-Pakets. (In welchem Umfang private deutsche Institutionen die Wertpapiere der fiskalischen Rettungseinrichtungen gekauft haben, ist nicht bekannt. Ein solcher Kauf zählt zum privaten Kapitalexport.) Es war damit die Bundesbank, die den Löwenanteil der deutschen Leistungsbilanzüberschüsse durch den Verleih ihrer Druckerpresse kreditiert hat. Im Umfang ihrer Kreditvergabe an die anderen Notenbanken des Eurosystems landeten die Ersparnisse der Deutschen, die sich in den Leistungsbilanzüberschüssen widerspiegeln, statt in ausländischen marktfähigen Anlageportfolios bei ihr selbst. Die deutschen Banken tilgten die Refinanzierungskredite, die sie von der Bundesbank bezogen hatten, und füllten ihre dortigen Termindepositen.
Dass Deutschlands Target-Forderungen durch die Leistungsbilanzüberschüsse zustande kamen, heißt nicht zwangsläufig, dass auch der Aufbau der Target-Schulden der Krisenländer im gleichem Umfang durch deren Leistungsbilanzdefizite erklärt wird, denn hinter dem Aufbau der deutschen Target-Forderungen steht eine Vielzahl komplexer Geschäftsstrukturen, an denen viele Länder beteiligt sind. Während der Nexus zwischen Leistungsbilanz und Target-Schulden bei Griechenland und Portugal sehr eng ist, steht bei Spanien, Italien und vor allem Irland Kapitalflucht im Vordergrund, die aber nicht speziell nach Deutschland ging. So haben die Druckerpressen dieser Länder zum Beispiel auch den britischen Investoren zur Flucht verholfen, die daraufhin in der Lage waren, Amerikanern Kredit für den Kauf deutscher Autos zu gewähren. In diesem Fall entstanden Target-Schulden in den Krisenländern und Target-Forderungen bei der Bundesbank, ohne dass es zu Kreditrückflüssen nach Deutschland kam. Die Bundesbank mag dann mit ihren Target- Krediten zwar Fluchthelfer gewesen sein, aber nicht für deutsche Investoren, sondern für solche aus Drittländern.
Im Übrigen ist die Fluchthelfer-Interpretation der Target-Salden und der hinter ihnen stehenden Sonderkredite der Notenbanken der Krisenländer nur eine mögliche Interpretation des Geschehens. Sie hatte zur Zeit der Lehman-Krise ihre Berechtigung, denn die Target-Kredite halfen, die Liquiditätskrise des Euroraums zu überwinden. Danach freilich stellen sich die Dinge gänzlich anders dar. Als die Weltwirtschaft im Winter 2009/2010 schon kräftig boomte und der Interbankenmarkt wieder in Gang gekommen war, konnten die meisten Krisenländer zwar abermals Kredit aufnehmen, aber nur zu höheren Zinsen, als sie es gewohnt waren, weil die Kapitalmärkte Insolvenzgefahren vermuteten und entsprechende Risikoprämien verlangten. In dieser Situation entschloss sich der EZB-Rat, die lokalen Druckerpressen durch die erwähnte Absenkung der Sicherheitsstandards für Refinanzierungskredite in Stellung zu bringen und den nationalen Notenbanken die Möglichkeit zur Unterbietung der Kapitalmärkte zu gewähren. Die EZB bot den Banken der Krisenländer eine Kombination von Kreditlaufzeit (bis zu einem Jahr, später sogar bis zu drei Jahren), Zinsen (1 Prozent, später gar nur 0,5 Prozent) und Pfandqualität (zum Beispiel die Akzeptanz von nicht gehandelten ABS-Papieren oder Staatspapieren mit Schrottstatus) an, mit der die Banken der noch gesunden Länder bei der Kreditvergabe nicht mehr mithalten konnten. So gesehen, schlugen die Druckerpressen des Südens die internationalen Kapitalanleger in dieser Zeit eher in die Flucht, als dass sie ihnen die Flucht ermöglicht hätten. Mario Draghi hatte für einen seiner Großangriffe auf die private Konkurrenz sogar den Begriff der „Dicken Bertha" gewählt, eines im Ersten Weltkrieg benutzten Mörsers.
Ob man das Geschehen „in die Flucht schlagen" oder „Fluchthilfe" nennt: der Ersatz der privaten internationalen Kredite durch die öffentlichen Kredite aus der Druckerpresse hat die beklagte Fragmentierung des europäischen Kapitalmarktes offensichtlich stark beschleunigt und nicht etwa abgemildert, wie Fratzscher meint. Hätte es Anreize gegeben, die Target-Salden durch das Abstellen der Druckerpressen im Süden zurückzufahren, etwa durch die Notwendigkeit, für diese Salden höhere Zinsen zu zahlen, wie es Ex-Bundesbank- Präsident Helmut Schlesinger vorschlägt, oder sie mit Gold zu tilgen, wie es im Festkurs-System von Bretton Woods oder auch im inneramerikanischen Zahlungsverkehr bis 1975 der Fall war, dann hätten sich höhere Zinsen in Südeuropa herausgebildet. Privates Kapital wäre dann wieder bereitwilliger über den Interbankenmarkt gen Süden geflossen. Höhere Zinsen hätten die südlichen Länder umgekehrt zu mehr Sparsamkeit veranlasst und dazu beigetragen, die für eine Verringerung der strukturellen Leistungsbilanzdefizite notwendigen realwirtschaftlichen Anpassungen am Arbeitsmarkt und im Staat durchzuführen. Eine solche strukturelle Verbesserung der Leistungsbilanzsalden hat aber, wie der Internationale Währungsfonds (IWF) gerade festgestellt hat, nicht stattgefunden. Nach wie vor sind die Länder Südeuropas völlig überteuert und meilenweit vom Zustand der Wettbewerbsfähigkeit entfernt.
Die Unterbietung des Kapitalmarktes mit der Druckerpresse ist heute der Hauptgrund dafür, dass die deutschen Banken und Versicherer keine risikoadäquaten Zinsen mehr verdienen können und die Versicherer sogar gezwungen sind, ihre Zinsgarantien zu widerrufen.
Manchmal werden die Vorteile betont, die die Zinssenkung für Deutschlands Kreditnehmer bedeutet. Indes ist Deutschland per Saldo kein Kreditnehmer, sondern ein Kreditgeber, denn es ist ein Nettogläubiger des Restes der Welt. Ja, es ist derzeit sogar der größte Kapitalexporteur noch vor China. Daher ist unser Land der große Verlierer der Zinssenkung, während die Krisenländer, die allesamt Nettoschuldner sind, zu den klaren Gewinnern gehören.
Die EZB betätigt sich als Einkaufsorganisation für deutsche Ersparnisse, die diese Ersparnisse zu Konditionen bedient und an die Krisenländer weiterverteilt, die sie selbst für angemessen hält. Nach dem gleichen Muster könnten wir demnächst etwa eine EU-gesteuerte Einkaufsorganisation für den Weiterverkauf deutscher Autos zu gerechten Preisen nach Südeuropa gründen und die damit fallenden Autopreise als Vorteil für die deutschen Verbraucher bejubeln.
Die Aktionen der EZB und die Hilfskredite der Staatengemeinschaft ließen die Vermögenseinkommen, die von den Krisenländern netto an das Ausland zu zahlen waren, im Verlauf der Krise fallen, obwohl die Märkte immer höhere Zinsen verlangten und die Auslandsschulden der Krisenländer kräftig anstiegen. Der Zinsvorteil, den die Krisenländer in den Jahren 2008 bis 2012 im Vergleich zu einer Beibehaltung der Zinssätze von 2007 erzielten, betrug 205 Milliarden Euro. Umgekehrt hatte Deutschland nach einer ähnlichen Rechnung einen Zinsnachteil von 203 Milharden Euro. Es ist nicht ganz falsch, in diesem Zusammenhang von einer Enteignung der deutschen Sparer durch die Niedrigzinskonkurrenz mit der Druckerpresse zu reden.
Falsch ist es wohl auch nicht, von Investitionslenkung zu reden. Nachdem die privaten Investoren erkannt hatten, dass viel von dem Kapital, das sie unter dem Schutz des Euro und angestachelt von den Regulierungssystemen nach Südeuropa getragen hatten, bei den Staaten und im Immobiliensektor verbrannte, haben sie versucht, ihre Portfolios neu zu strukturieren. Unter anderem haben sie sich wieder auf deutsche Immobilien besonnen und nach vielen Jahren der Flaute den hiesigen Bauboom der letzten drei Jahre erzeugt. Diese Neuorientierung der Portfolios scheint der EU und der EZB freilich ein Dorn im Auge zu sein. Deswegen wurde ein öffentlicher Kapitalfluss über die EZB und die Staatengemeinschaft organisiert, der an die Stelle des privaten Kapitalflusses getreten ist. Damit wird die Fehlallokation des europäischen Sparkapitals, die der Eurozone im letzten Jahrzehnt bereits das niedrigste Wachstum aller Großregionen der Welt gebracht hat, perpetuiert. Kapital wird auch weiterhin verbrannt werden.
Die Kredite aus der Druckerpresse, die durch die Target-Salden gemessen werden, sind der wichtigste Teil der Rettungsaktionen der EZB, mit dem die Euro-Krise bislang in Schach gehalten wurde. Sie dienten der Finanzierung der Staaten und der privaten Wirtschaft durch das Bankensystem. Man kann lange darüber streiten, ob diese Kredite ökonomisch berechtigt waren oder nicht. Fest steht nur, dass die schwierige Abwägung zwischen den Chancen und Risiken, insbesondere die Beurteilung der Verteilungswirkungen zwischen den Völkern Europas nicht von den Parlamenten vorgenommen wurde, sondern vom EZB-Rat, einem technokratischen Gremium, in dem Deutschland nicht mehr Gewicht hat als Malta und Zypern und in dem es seit Mai 2010 laufend überstimmt wird.
Die Entscheidungen dieses Rates haben in eklatantem Widerspruch zu Artikel 125 des EU-Vertrages ein gewaltiges Volumen an öffentlichen Krediten und Haftungsversprechen der EZB zugunsten der Banken und Staaten Südeuropas in Bewegung gesetzt, das nun die EZB selbst gefährdet. Die Abschreibungsrisiken könnten das Eigenkapital des EZB-Systems, das bei 500 Milliarden Euro liegt, übersteigen. Auch wenn eine Notenbank technisch mit negativem Eigenkapital weiterarbeiten kann, weil ihr wahres Kapital im Wert der Zinsansprüche aus dem Verleih des selbstgemachten Geldes besteht, wäre der Verlust auch nur eines Teils dieser Summe ein verheerendes Signal für die Kapitalmärkte.
Summiert man die Staatspapierkäufe durch die Notenbanken der noch gesunden Länder des Euroraums mit den vom EZB-Rat verantworteten Target-Krediten zugunsten der sechs Krisenländer (Griechenland, Irland, Portugal, Spanien, Italien, Zypern) und zieht man Forderungen der Krisenländer aus einer leicht unterproportionalen Banknotenausgabe ab, kommt man auf einen Gesamtbetrag der Rettungskredite der EZB von 747 Milliarden Euro. Das ist etwa doppelt so viel wie alle schon gewährten fiskalischen und von den Parlamenten verantworteten Rettungskredite der Staatengemeinschaft zusammengenommen, die 385 Milliarden Euro betragen.
Die Kredite der Staatengemeinschaft stehen ökonomisch auf der gleichen Stufe wie die EZB-Kredite, sie kamen aber später und sind im Grunde Folgekredite zur Entlastung der EZB. Angesichts der Vorleistungen der EZB bleibt den Parlamenten gar nichts anderes übrig, als selbst eine fiskalische Rettungsarchitektur in Form des Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM und anderer Maßnahmen nachzuschieben, denn würden sie der EZB die Anschlussfinanzierung verweigern, käme es womöglich zum Kollaps des ganzen Eurosystems. Auch das nachdrückliche Verlangen einer Rekapitalisierung der Banken mit den Mitteln des ESM, das EZB-Präsident Draghi kürzlich in einem Brief an die EU-Kommission formuliert hat, erklärt sich aus seiner panischen Angst vor den eigenen Verlusten.
Da die Target-Salden der Krisenländer schon einmal deutlich höher lagen als der heute noch vorhandene Rest von 681 Milliarden Euro, hat sich bei manchen Beobachtern das Gefühl der Entwarnung verbreitet. Sie haben sich aber vielleicht noch nicht klargemacht, dass die fiskalischen Rettungskredite der Staatengemeinschaft die Target-Salden der Krisenländer unmittelbar und in vollem Umfang tilgen und ersetzen. Das ist ein automatischer Vorgang, der aus der Natur des Target-Systems resultiert. Ohne die fiskalischen Rettungskredite der Staatengemeinschaft lägen die von den Krisenländern bezogenen Target-Kredite heute unter sonst gleichen Umständen nicht bei 681 Milliarden Euro, sondern bei 1066 Milliarden Euro.
Die Parlamente Europas stehen beim Aufbau der Rettungsarchitektur vor fast alternativlosen Entscheidungen, die schon vor Jahren vom EZB-Rat vorbereitet wurden, und wurden zu Erfüllungsgehilfen degradiert. Für mich stellt sich angesichts dieser Verhältnisse die Frage, ob die fiskalische Regionalpolitik, die hinter den verschlossenen Toren der EZB beschlossen wurde und für die es im amerikanischen Notenbanksystem keine Parallelen gibt, noch mit den Regeln der parlamentarischen Demokratie und der deutschen Verfassung vereinbar ist.
Hans-Werner Sinn bezieht sich auf den Gastbeitrag von Marcel Fraztscher „Deutschland ist der große Target-Gewinner" (FAZ. vom 30. Oktober 2013).
Der Autor
Hans-Werner Sinn lässt nicht locker. Nicht nur in der Euro-Krise zeigt der Präsident des Ifo-Instituts in München enorme Standfestigkeit und sucht die Auseinandersetzung über Positionen, die er für richtig erkannt hat. Dieser Tage wirbt der Ökonom bei den Unterhändlern der großen Koalition für seinen Vorschlag einer Kinder-Rente, also der Besserstellung von Eltern in der Rentenversicherung. Sinns Ruf reicht weit über Deutschland hinaus. Gerade war er zum ersten Mal in der Mongolei. Der dortigen Regierung rät er, wie den Südeuropäern, zu einer guten Dosis Austerität, um das astronomische Handelsdefizit abzubauen. (hig.)
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