WirtschaftsWoche, 23. August 2024, Nr. 35, S. 39.
Die Politik darf sich nicht länger vor einer Rentenreform drücken. Wir müssen länger arbeiten - auch wegen der Boomer.
Die Lage ist hochproblematisch: In Deutschland ändert sich die Zahl der Rentner im Verhältnis zur Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter bis zur Mitte des nächsten Jahrzehnts schneller als im Durchschnitt aller anderen OECD-Länder. Das liegt daran, dass Deutschland einen besonders hohen Anteil an – selbst kinderarmen – Babyboomern hat, die nun ins Rentenalter kommen. Zugleich steigt die Lebenserwartung aufgrund des medizinischen Fortschritts.
Im Jahr 2035 wird auch nach jüngsten Berechnungen das Zahlenverhältnis von Einwohnern über 64 Jahren und Einwohnern zwischen 15 bis 64 Jahren fast doppelt so hoch sein wie im Jahr 2000. Die Politik hat eine schwere Wahl irgendwo zwischen den Extremen einer fast verdoppelten Abgabenlast für die Jungen oder fast halbierten Renten für die Alten zu treffen. Versteckspiele mittels einer Umdefinition des „Rentenniveaus“ oder einer Umwidmung von Beiträgen in Steuern können daran nichts ändern. Das alles ist lange bekannt.
Schon vor einem Vierteljahrhundert habe ich vorgeschlagen, die dem Rentensystem inhärente Diskriminierung kinderreicher Familien zu korrigieren, um den Menschen wieder die freie Entscheidung über ihre Familienplanung zu überlassen. Passiert ist aber nichts. Jetzt ist eiliges Flickwerk unvermeidbar.
Natürlich könnte man als Ersatz für die fehlenden eigenen Kinder noch mehr junge Erwachsene aus anderen Kulturkreisen ins Land holen. Die jüngsten Erfahrungen machen aber wenig Hoffnung, dass sich dann überwiegend gut ausgebildete Fachkräfte bei uns einfinden, die einen Nettobeitrag zur Finanzierung des Staates leisten. Im Übrigen dürfte die Assimilationskraft Deutschlands mit einem Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund von 30 Prozent (und von 42 Prozent bei Kindern bis 15 Jahren) bereits weitgehend erschöpft sein.
Zur Stabilisierung des deutschen Rentensystems bleiben daher nur Maßnahmen, die Beschäftigte veranlassen, länger zu arbeiten. Unter allen denkbaren Lösungsansätzen ist das der am wenigsten schmerzhafte.
Als erstes könnten die derzeitigen Fehlanreize für eine Frühverrentung abgeschafft werden. Darauf hat der Rentenspezialist des Sachverständigenrates, Martin Werding, kürzlich hingewiesen. Wer vorzeitig in den Ruhestand geht, muss zwar einen Rentenabschlag hinnehmen. Doch ist dieser Abschlag mit nur 3,6 Prozent pro Jahr viel zu gering, um den Vorteil der größeren Zahl an späteren Rentenbezugsjahren zu kompensieren. Kein Wunder, dass viele Menschen den Vorruhestand wählen. Wollte man den künstlichen Anreiz zur Frühverrentung eliminieren, wäre ein sehr viel größerer Abschlag nötig.
Das Versagen der Babyboomer
Ebenso wichtig wäre aber eine automatisierte Erhöhung des Renteneintrittsalters, die sich an der Erhöhung des durchschnittlichen Sterbealters orientiert. Der durch Alterung bedinge Teil des Finanzierungsdefizits der Rentenversicherung ließe sich mit folgender Faustformel vermeiden: Steigt die Lebenserwartung um ein Jahr, werden zwei Drittel davon dem verlängerten Arbeitsleben zugeschlagen und ein Drittel dem Ruhestand.
Um den anstehenden Berg der Babyboomer zu bedienen, reicht aber leider auch das nicht. Vielmehr müssen die Babyboomer über die Faustformel hinaus noch länger arbeiten, weil sie selbst zu wenig Kinder großgezogen haben, als dass sich die gewünschten Renten ohne stark steigende Abgabenlasten der Jungen finanzieren ließen.
Parallel zur Erhöhung des Rentenalters könnte die Politik auch das Arbeitsrecht ändern, ähnlich wie es die USA und Schweden bereits gemacht machen. Dort gilt eine Kündigung aus Altersgründen als Diskriminierung älterer Arbeitnehmer, die grundsätzlich verboten ist, sofern jemand das 70. Lebensjahr noch nicht erreicht hat. Renteneintritt und Arbeitsende sind rechtlich entkoppelt.
Wenn die deutsche Politik dann noch flankierend den Arbeitgeberbeitrag zur Rentenversicherung streicht, der derzeit im Falle einer Weiterbeschäftigung über das Renteneintrittsalter hinaus zu zahlen ist, sollte eine für Arbeitgeber und Arbeitnehmer tragfähige Lösung zustande kommen. Arbeitnehmer können dann immer noch freiwillig früher ausscheiden, müssen es aber nicht. Und die Allgemeinheit profitiert von zusätzlichen Steuereinnahmen durch die verlängerte Arbeitszeit.
Im Vergleich zu dem im Falle der Untätigkeit drohenden Finanzchaos wäre das eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten.
Nachzulesen auf www.wiwo.de.