Ein Schuldenschnitt ist das Normalste auf der Welt

Hans-Werner Sinn

Die Presse, 26. Juli 2020, S. 18.

Der bekannteste deutschsprachige Ökonom, Hans-Werner Sinn, diagnostiziert in Ländern wie Italien die „holländische Krankheit“ und erwartet, dass die EU Richtung Transferunion abdriftet. Einen schönen Ausweg sieht er nicht: „Man kann nur unter den Übeln wählen". Sicher ist für Sinn: Die EZB handelt „hochgefährlich".

Herr Sinn, ich habe gelesen, Sie haben Geld an Italien gespendet?

Hans-Werner Sinn: Ja, zusammen mit meiner Frau für unsere Verhältnisse größere Summen an das Rote Kreuz in Italien und an die Außenstellen verschiedener Städte. Wir haben den Wirtschaftsbeirat Bayern auch für eine Spendenaktion der bayerischen Unternehmen eingeschaltet. Nach den Bildern der Leichentransporte musste man ein Zeichen der Solidarität setzen.

Dann gefällt Ihnen doch sicher auch, dass die EU jetzt auch sozusagen Geld spendet, nämlich über einen EU-Wiederaufbaufonds 390 Milliarden Euro Zuschüsse verteilt?

Das finde ich im Prinzip richtig.

Aber?

Für mich ist eine Spende ein freiwilliger Akt, den jeder Staat für sich setzen kann. Da braucht es keine EU-Koordination. Und falls doch, hätte es den Europäischen Stabilitätsmechanismus, den ESM, gegeben. Den wollten Italien und Frankreich aber nicht benutzen, weil Gelder aus dem ESM an Auflagen geknüpft sind. Aber ich will nicht lamentieren. Die Hilfe ist richtig. Wovor ich warne, ist der Irrglaube an ein dauerhaftes Transfersystem, wie es Emmanuel Macron will. Denn wenn der Norden permanent Transfers an den Süden überweist, wäre das für den Süden eher problematisch.

Für den Norden wäre die Transferunion teuer, aber welches Problem hätte der Süden?

Transfers stützen zwar den Lebensstandard, aber dadurch wird ein ein Problem zementiert, das man als holländische Krankheit bezeichnet. Die Holländer hatten in den Sechzigern Gas gefunden und konnten so ihren Lebensstandard steigern, was mit steigenden Löhnen einherging und die Industrie dezimierte. Und ob sie jetzt Ressourcen verkaufen, Geld geschenkt oder Kredite bekommen: Der Effekt ist immer derselbe, es wird ein Lohnniveau gestützt, das keine wirtschaftliche Basis hat. Die Exportwirtschaft verliert dabei ihre Wettbewerbsfähigkeit.

In ihrem neuen Buch schreiben Sie von der „Droge“ des billigen Geldes.

Ob sie jetzt Ressourcen verkaufen, Geld geschenkt bekommen oder Kredite erhalten: Der Effekt ist immer derselbe, immer wird ein Lohnniveau gestützt, das keine wirtschaftliche Basis hat, und es lassen sich Importe ins Land holen. Die Exportwirtschaft verliert dabei ihre Wettbewerbsfähigkeit.

Das klingt nach viel Misstrauen, dass die Länder diese Gelder auch sinnvoll einsetzen können.

Ich moralisiere nicht und verurteile niemanden. Es geht um einen ökonomischen Mechanismus, der in der Literatur belegt ist und sich bei den Ressourcenländern von Norwegen bis Venezuela beobachten lässt. Überall wurde die Industrie verdrängt.

Wie kann der italienische Patient dann langfristig wieder auf die Beine kommen?

Leider ist es so: Wir haben in Europa ein frappierendes Problem der Wettbewerbsfähigkeit der Industrien des Südens und alle möglichen Lösungen sind unbefriedigend. Es gibt im Leben manchmal solche Situationen. Man kann dann nur zwischen den Übeln wählen.

Welche Übel stehen für die angeschlagenen Staaten wie Italien zur Auswahl?

Erstens: Wir schaffen in der Eurozone eine Transferunion und stützen damit das überhöhte Lohnniveau, das für die Industrie nicht mehr tragbar ist. Oder die Mittelmeerunion wertet im Euro ab, senkt also die Löhne und Preise. Es ist aber gefährlich, einen solchen Schritt gegen die Gewerkschaften durchzusetzen. Das würde politisch ein Hauen und Stechen geben. Variante drei: Wir inflationieren die Länder des Nordens wie Österreich und Deutschland, damit der Süden innerhalb des Euro seine Wettbewerbsfähigkeit zurückerlangt. Das ist aber kaum kompatibel mit dem Maastrichter Vertrag. Oder wir wählen die Variante, die für Griechenland schon 2011 und 2015 angedacht wurde.

Einen Austritt aus dem Euro?

Temporär. Die Staaten werten also mittels Euro-Ausstieg ab, um ihre Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen. Aber das ist auch keine schöne Lösung. Man denke nur an die drohende Kapitalflucht und daher notwendige Kapitalverkehrskontrollen.

Und wozu raten Sie?

Das müssen die Betroffenen beurteilen. Ich bin aber keinesfalls der Meinung, dass es besser wäre, wenn Italien den Euro verlassen würde.

Und womit rechnen Sie?

Man wird wohl schleichend in eine Transferunion hineinkommen, in der die Gefahr besteht, dass der ganze Mittelmeerraum so aussieht wie heute der italienische Mezzogiorno. Dass also die Regionen zwar durch Transfers ihr Lohn- und Wohlstandsniveau halten können, aber zugleich ihre Wettbewerbsfähigkeit immer weiter verlieren.

Italien drückte schon vor Corona auch ein gewaltiger Schuldenberg. Wie trägt man den innerhalb des Euro ab?

Ich glaube jedenfalls nicht, dass Italien so ohne Weiteres in der Lage sein wird, seine Schulden zu bedienen. Eine Option ist ein Schuldenschnitt zulasten derer, die sich verspekuliert haben. Es hat seit dem Krieg global über 180 Schuldenschnitte gegeben. Das ist das Normalste auf der Welt.

Italienische Banken halten viele dieser Papiere. Würde nicht sofort das Bankensystem kollabieren?

Auch die Gläubiger der Banken müssten verzichten, um das zu verhindern. Aber ein erheblicher Teil der Papiere liegt auch im Ausland und bei der EZB. Französische Banken und Institutionen sind besonders exponiert, viermal so stark wie die deutschen. Jetzt können Sie vielleicht auch verstehen, warum Frankreich so fixiert ist auf Hilfen für den Mittelmeerraum.

In Deutschland wird gleichfalls der Eigennutz der Zuschüsse betont. Italien zum Beispiel ist die drittgrößte Volkswirtschaft im Binnenmarkt, der wiederum der größte deutsche Exportmarkt ist.

Das ist ein billiges Scheinargument. Wenn der Steuerzahler die Exporte nach Italien selbst bezahlen muss, dann stützt das zwar die Exportindustrie, aber nicht die deutsche Volkswirtschaft. Aber nochmal: Ich bin für Hilfen an Italien aus Gründen der Solidarität.

Sie haben stets die gewaltigen Anleihenkäufe der EZB kritisiert. Gilt das auch in der Coronakrise oder ist das viele Gelddrucken hier vorübergehend gerechtfertigt?

Zunächst finde ich es sehr richtig, dass sich der Staat in der Krise verschuldet, damit die Lasten auf mehrere Generationen verteilt werden und nicht nur diese eine Generation das ganze Corona-Unglück erfährt. Aber es ist falsch und hochgefährlich, dass just die EZB diese Papiere kauft und nicht private Anleger. Denn das bedeutet einen Verlust der Kontrolle über das Preisniveau.

Sie sehen also die Gefahr einer galoppierenden Inflation?

Nicht heute und nicht in der näheren Zukunft. Wir befinden uns noch in der Liquiditätsfalle. Damit ist gemeint, dass man beliebig viel neues Geld in die Wirtschaft hineindrücken kann: Es wird immer gehortet und nicht ausgegeben. Es gibt also weder eine negative, noch eine positive oder inflationäre Wirkung, sondern gar keine. Aber wenn die Krise überwunden ist, dann kann aus vielerlei Gründen ein Preisanstieg einsetzen, der über zwei Prozent hinausgeht und sich dann selbst beschleunigt, sodass eine Angst vor der Geldentwertung die Menschen erfasst. Diesen Preisanstieg könnte man nicht mehr bremsen.

Die EZB pumpte schon Jahre vor Corona immer neues Geld in die Wirtschaft. Aber das Schreckgespenst der Inflation hat sich trotz vieler Warnungen noch nicht blicken lassen.

Weil wir ja auch seit 2008 in der Liquiditätsfalle sind. Corona schubst uns nur noch tiefer dort hinein.

Wieso könnte die EZB die Zügel nicht einfach wieder anziehen, falls die Preise kräftig steigen?

Da muss ich ausholen: Wir werden bis zum Ende dieses Jahres gut fünf Billionen Euro an Zentralbankgeld im Umlauf haben. Das ist mehr als das Fünffache des Volumens von vor der Lehman-Krise 2008. Damals waren es 900 Milliarden Euro. Dabei ist die Volkswirtschaft der Eurozone heute nicht größer als damals. Die EZB müsste also etwa vier von fünf Billionen aus dem Markt ziehen. Wie soll das gehen? Man kann die Refinanzierungskredite zwar kürzen und auslaufen lassen. Dann schrumpft ein Teil der Geldmenge. Aber man kann nicht die ganzen Staatspapiere wieder verkaufen. Dann würde deren Kurs in den Keller rutschen, die Banken in Schwierigkeiten geraten, und die Staaten hätten Finanzierungsprobleme. Die EZB wird das aus politischen Gründen gar nicht machen können und wollen.

Gretchenfrage: Wie rasch wird sich die Weltwirtschaft vom unmittelbaren Corona-Schock erholen? Rechnen Sie mit einer V-förmigen Kurve, also einer raschen Rückkehr auf das Vorkrisenniveau, oder doch mit einem U oder gar einem L?

Weder noch. Es wird ein gespiegeltes Wurzelzeichen. Die Wirtschaft geht runter und dann rasch wieder hoch, aber anfangs noch nicht auf das alte Niveau.

Weniger Arbeitslose, weniger Corona-Tote, weniger Verlust an Wirtschaftskraft: Deutschland ist bisher besser durch die Krise gekommen als andere große Industrienationen. Ist es ein relativer Krisengewinner?

Diese Krise kennt nur Verlierer. Und Deutschland hat viel Geld aufgenommen, um die Ausfälle in der Wirtschaft zu kompensieren. Das wird auch unsere Enkelkinder noch sehr lange bedrücken.

Waren die Hilfspakete ein Fehler?

Nein, die Strategie war im Grunde sehr richtig. Der Staat musste handeln. Ich finde aber den Umfang der Transfers übertreiben. Wenn man alles zusammenrechnet, also auch Kredite und Bürgschaften, kommt man auf mehr als 40 Prozent des BIP. Davon sind 18 Prozentpunkte nach der Klassifikation des Bundesfinanzministeriums haushaltswirksam. Da scheint mir Maß und Mitte verloren gegangen zu sein.

Das Interview führte Jürgen Streihammer.

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