Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. November 2021, Nr. 272, S. 18.
Der Bestand an Zentralbankgeld im Euroraum hat sich seit dem Beginn der Finanzkrise im Sommer des Jahres 2008 bis Herbst 2021 fast versiebenfacht, von 880 Milliarden auf ziemlich genau 6 Billionen Euro, viel schneller, als die Wirtschaftsleistung stieg. 4 Billionen Euro von dem Zuwachs wurden durch den Kauf staatlicher Papiere erklärt. Drei Viertel der neuen Staatsschulden der Euroländer wurden aus der Druckerpresse finanziert. Inflationsgefahren liegen in der Luft.
Lange Jahre kam die Inflation trotz steigender Geldmenge nicht zustande, weil das neue Geld von Banken und anderen Marktteilnehmern gehortet wurde. Die fehlende Wirkung nahm die EZB zum Anlass, immer mehr Staatspapiere mit frischem Geld zu erwerben. Mittlerweile hat die Inflation aber begonnen.
Da der Nachfrageeffekt staatlicher Defizite mit der Materialknappheit am Ausgang der Pandemie zusammentraf, kam es im Jahr 2021 zu einer gewaltigen Anstoßinflation mit zweistelligen Zuwachsraten der gewerblichen Erzeugerpreise. In den nächsten Jahren sind weitere Anstoßeffekte zu erwarten, weil die Energiewende und die Pensionierung der Babyboomer abermals Kostensteigerungen bedeuten. Diese Anstoßeffekte könnten eine sich selbst verstärkende Inflationsspirale in Gang setzen, bei der sich der Geldüberhang inflationär entlädt, ähnlich wie der Ketchup, der lange im Kühlschrank lag und nach dem Schütteln auf einmal aus der Flasche herausspritzt.
Angesichts dieser Gefahr müssten die Zentralbanken heute bereits das überschüssige Geld wieder einsammeln, indem sie die Staatspapiere, die sie in Besitz genommen haben, verkaufen. Doch wird das nicht passieren, weil die hoch verschuldeten Länder der Eurozone mauern. Die Inflationsbremse ist zerstört.
Selten fühlt man sich als Ökonom so hilflos wie heute gegenüber der sich anbahnenden Gefahr der Inflation. Die Hilflosigkeit resultiert nicht aus der fehlenden Erkenntnis dessen, was geschehen sollte, sondern aus der Erkenntnis des gewaltigen Verteilungskonflikts in Europa, der verhindert, dass die Sorge
um die Preisstabilität, die der Maastrichter Vertrag der EZB aufgibt, hinreichend ernst genommen wird. Zu offenkundig ist es, dass die Schar jener Vertreter im EZB-Rat, die sich für eine stabilitätsorientierte Politik aussprechen, eine hoffnungslos kleine Minderheit ist.
Es würde schon helfen, wenn sich die Regierungen der um die Inflation besorgten Länder öffentlich zu Wort meldeten. Das wäre kein Angriff auf die Unabhängigkeit der EZB, sondern eine notwendige Diskussion um die vertraglichen Grenzen, innerhalb derer diese Unabhängigkeit nur besteht. Ein breiter öffentlicher Diskurs zu diesem Thema ist erforderlich, bevor es zu spät ist.
Es geht nicht an, dass die Stimmrechte im EZB-Rat nach wie vor so ungleichmäßig verteilt bleiben wie heute. Jeder Bürger der Eurozone hat das Recht auf eine gleiche politische Repräsentanz im EZB-Rat, denn die Entscheidungen dieses Rates haben, wie inzwischen überdeutlich ist, gewaltige Umverteilungseffekte zur Folge. Wer meint, diese Umverteilungseffekte seien nur die unvermeidliche Implikation einer dem Allgemeinwohl dienenden Geldpolitik, verkennt die Realität. Er übersieht die Verdachtsmomente oder will sie nicht sehen. Nur eine Anpassung der Stimmrechte an die Bevölkerungsgröße der EU-Länder kann letztlich Abhilfe schaffen.
Europa braucht eine politische Union mit einer prosperierenden und stabilen Gesellschaft. Es braucht dafür ein stabiles Geld, das den Bürgern Gewissheit schafft, dass die Früchte ihrer Anstrengungen nicht durch eine Inflation in fremde Hände übertragen werden. Wird diese Geldwertstabilität nicht erreicht, wird sich Streit und Hader in der EU ausbreiten.
Der Text auf dieser Seite ist ein bearbeiteter Auszug aus Hans-Werner Sinns neuem Buch "Die wundersame Geldvermehrung", das im Herder-Verlag erscheint (432 Seiten, 28 Euro).
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