Die Europäische Zentralbank (EZB) sei nun eine Zentralbank wie andere auch, so kommentierte EZB-Präsident Mario Draghi das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 11. Dezember, mit dem das Kaufprogramm der EZB für die Staatspapiere der Euro-Zone (PSPP) abgesegnet wurde. Und so äussert sich der EuGH sinngemäss auch selbst. Das Urteil fand im Brexit-Trubel medial nur wenig Beachtung, ist jedoch von fundamentaler Bedeutung für die finanzielle Stabilität des Euro-Systems, weil nun der Artikel 123 des EU-Vertrages, der eine Monetisierung der Staatsschulden durch die Notenbank verbietet, endgültig ausgehebelt wurde, es sei denn, das deutsche Bundesverfassungsgericht akzeptiere dieses Urteil nicht.
Als der Kauf von Staatspapieren von Krisenstaaten für letztendlich 223 Milliarden Euro im Rahmen des SMP – eines Vorläuferprogramms zum PSPP – im Mai 2010 beschlossen worden war, hatte es noch viel Aufregung gegeben. Der damalige Präsident der Bundesbank, Axel Weber, sowie der Chefvolkswirt der EZB, Jürgen Stark, waren unter Protest gegen die in ihren Augen unverantwortliche Interpretation des Artikels 123 von ihren Posten zurückgetreten. Und auch noch als Mario Draghi im Sommer 2012 im Rahmen des sogenannten OMT-Programms den unbegrenzten Kauf von Staatspapieren finanziell notleidender Länder angekündigt hatte, gab es abermals grossen Widerstand.
Schleichend hat sich die Öffentlichkeit nun aber anscheinend an das gewöhnt, was das deutsche Verfassungsgericht in seinem OMT-Vorlagenbeschluss als «Machtusurpation» der EZB bezeichnet hatte. Deutschland hat den Kampf um eine der Ausgabendisziplin verpflichtete Notenbank, die sich nicht zum Erfüllungsgehilfen überschuldeter Staaten macht, fast schon verloren.
Die Aussage, die EZB sei nun eine normale Zentralbank wie die Zentralbank anderer grosser «Jurisdiktionen» geworden, muss freilich in den Ohren des deutschen Verfassungsgerichts wie Hohn klingen, hat es doch immer betont, dass die EZB das nun gerade nicht sei, weil sie ja nur die Zentralbank eines Staatenbundes ist, der durch den Maastrichter Vertrag viel engere Grenzen als bundesstaatlichen Zentralbanken gesetzt wurden.
Im Übrigen weiss ja jeder, der sich nur ein bisschen informiert, dass zum Beispiel die amerikanische Notenbank (Fed) überhaupt keine Staatspapiere von Einzelstaaten kauft. Wie froh wären die Regierungen von Kalifornien, Minnesota oder Illinois, die allesamt in tiefen Finanzproblemen stecken, wenn sie wüssten, dass ihre Staatspapiere von der Fed gekauft würden, denn dann brauchten sie sich keine Sorgen um ein Konkursrisiko und ängstliche Gläubiger zu machen. In der Schweiz stehen die Gebietskörperschaften generell nicht gegenseitig für die Schulden ein. Das Urteil zu der überschuldeten Gemeinde Leukerbad hat dies nochmals bestätigt. Weder in den USA noch in der Schweiz gibt es die von Präsident Draghi und vom EuGH behauptete Normalität, und dies, obwohl wir hier von föderalen Strukturen reden, die weit mehr Staatlichkeit erreicht haben als die Euro-Zone.
Das deutsche Verfassungsgericht muss die Entscheidung des EuGH auch deshalb als Brüskierung empfinden, weil es erhebliche Evidenz für die Mandatsüberschreitung durch die EZB sah. So sei es offenkundig, dass sich durch die Aufkäufe von Staatspapieren die Finanzierungsbedingungen der Staaten verbesserten. Das sei eine bewusst in Kauf genommene wirtschaftspolitische Implikation, der gegenüber geldpolitische Zielsetzungen in den Hintergrund treten. Für diese Interpretation spreche auch die «faktische Gewissheit» der Schuldnerstaaten, dass die von ihnen emittierten Papiere alsbald von der EZB gekauft würden. Der Verzicht auf eine Rückabwicklung des PSPP-Programms sowie das Halten der Staatspapiere bis zur Endfälligkeit nehme den Anreiz, eine gesunde Haushaltsführung zu verfolgen. Und in der Tat sei es von Anbeginn an «eine sichere Folge des PSPP» gewesen, dass die Staaten wieder mehr Schulden machen würden. Diese Folge sei ja auch tatsächlich eingetreten.
Maximaler Widerspruch
Der EuGH widerspricht dieser Auffassung mit wachsweichen Argumenten. Zwar könne man nicht in Abrede stellen, dass sich die Finanzierungsbedingungen der Staaten durch das PSPP verbesserten, jedoch heisse das noch lange nicht, dass es keine Anreize mehr für eine gesunde Haushaltsführung gebe. Aus vielerlei Gründen bestehe bei den Anlegern ein Restrisiko, das die verschuldeten Staaten durchaus zur Solidität anhalten werde. Im Übrigen müsse alles an der Frage gemessen werden, ob das PSPP die Deflationsgefahren verringere. Das sei eindeutig der Fall, weil es die Banken auf dem Wege über eine Kurserhöhung der von ihnen gehaltenen Staatspapiere wieder mit mehr Eigenkapital ausstatte, was eine erhöhte Kreditvergabe an die Privatwirtschaft ermögliche. Dass die Deflationsgefahren vor allem deshalb kleiner werden, weil die Staaten sich nun stärker verschulden und mehr Geld ausgeben, wird vom EuGH verschwiegen.
Alles in allem ergibt sich aus der Reaktion des EuGH ein maximaler Widerspruch zu den eindeutig formulierten Meinungen und Argumenten des deutschen Verfassungsgerichts. Der EuGH verneint nicht nur die Fragen, die das deutsche Gericht im Zuge seines Vorlagenbeschlusses gestellt hat, sondern widerspricht auch einer Vielzahl faktischer Aussagen und Bewertungen durch das Bundesverfassungsgericht, die an Klarheit nichts zu wünschen übrigliessen. Sollte sich das Bundesverfassungsgericht nun abermals, wie schon beim OMT-Urteil, dem EuGH beugen und das Urteil erneut als falsch, aber noch hinnehmbar ansehen, würde es nicht nur seine Glaubwürdigkeit, sondern auch die Stabilität des deutschen Rechtssystems untergraben. Eines ist nämlich klar: Die Kompetenz und Verantwortung, die Vereinbarkeit der EU-Regeln mit der deutschen Verfassung zu prüfen, hat nicht der EuGH, sondern das Bundesverfassungsgericht allein. Das Urteil des EuGH zum PSPP hat das Fass zum Überlaufen gebracht.
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