Das war in früheren Zeiten ganz anders. Vor allem zur Zeit der Eurokrise hatten die gestiegenen Target-Salden öffentlich für viel Aufmerksamkeit gesorgt. Es war diskutiert worden, was mit Forderungen und Verbindlichkeiten aus diesem System passiert, wenn ein Land aus dem Euro austreten oder gar der Euro zerbrechen sollte. Der italienische Ökonom Roberto Perotti hat sich jetzt in der Zeitschrift „Economic Policy“ unter dem Titel „Die deutsche Target-Kritik verstehen“ noch mal damit befasst. Aber auch in späterer Zeit, im Sommer 2020, war ein auffälliger Anstieg des deutschen Target-Salden zu beobachten gewesen. In dieser Corona-Zeit war erstmals die Marke von einer Billion Euro überschritten worden. Der bisherige Rekord aus dem Oktober 2022 lag bei 1,25 Billionen Euro. Weiter ging der Anstieg dann aber nicht mehr.
Kürzlich tauchte der Target-Saldo dann noch einmal öffentlich auf – bei der Vorstellung der Bilanzen der Notenbanken des Eurosystems für 2023. Und zwar deshalb, weil offene Positionen aus dem Target-System im Zuge der Zinswende mittlerweile ganz ordentlich verzinst werden müssen. Auf Jahressicht stieg der Durchschnittszinssatz dafür von 0,6 auf 3,84 Prozent. Das führte dazu, dass die Bundesbank, die Nettoforderungen aus dem Target-System hatte, einen Zinsertrag von 41,7 Milliarden Euro verbuchen konnte. Was ihr aber nicht viel nützte, weil andere Posten, darunter Zinszahlungen an Geschäftsbanken, ihr unter dem Strich einen hohen Zinsverlust bescherten. Auf der anderen Seite wies die EZB, die Nettoverbindlichkeiten aus dem Target-System gegenüber nationalen Notenbanken hat, dafür Aufwendungen für Zinszahlungen von 14,2 Milliarden Euro aus, die mit zu ihrem hohen Jahresverlust beitrugen.
Zwei Faktoren hatten die Salden vor allem hochgetrieben
Was steckt nun dahinter? Warum stagniert der deutsche Target-Saldo von Monat zu Monat, und warum ist er längerfristig betrachtet sogar spürbar rückläufig? Frank Westermann, Professor für internationale Wirtschaftspolitik an der Universität in Osnabrück, nennt zwei Faktoren, die in der Vergangenheit die Target-Salden besonders in die Höhe getrieben hätten: erstens die Anleihekäufe der Notenbanken und zweitens die Refinanzierungskredite an Banken, bei denen sich Geschäftsbanken gegen Sicherheiten Geld bei ihrer nationalen Notenbank geliehen und es dann ins Ausland überwiesen hätten. Westermann sagte: „Es gab Phasen, in denen Ersteres der treibende Faktor war, und andere, in denen Letzteres überwog.“
Zu dem ersten Effekt: Wie kann man sich das vorstellen, dass die Anleihekäufe die Target-Salden getrieben haben? In den billionenschweren Anleihekaufprogrammen der Notenbanken seit EZB-Präsident Mario Draghi entfielen Käufer und Verkäufer von Anleihen oftmals auf unterschiedliche Länder. Wenn beispielsweise eine spanische Staatsanleihe von der spanischen Notenbank angekauft wurde, aber der Verkäufer ein internationaler Investor mit einem Konto in Frankfurt war, führte das zu einem Geldstrom, der den Target-Saldo beeinflusste – in diesem Beispiel positiv für Deutschland, negativ für Spanien. Es gab aber auch Anleihekäufe der EZB selbst. Dort unterhalten Geschäftsbanken keine Konten. Wenn eine Bundesanleihe von der EZB von einer amerikanischen Geschäftsbank gekauft wurde, erfolgte die Zahlung dafür zum Beispiel über ein Konto bei der Bundesbank. Die Anleihe fand sich danach in den Büchern der EZB wieder. Die Finanzierung des Kaufs aber lief über die jeweilige nationale Notenbank. Gleichsam als Ausgleichsposten zwischen beiden Zentralbanken wirkte das Target-System; die EZB hatte anschließend eine Verbindlichkeit aus dem Target-System gegenüber der nationalen Notenbank in den Büchern.
EZB hat Anleihekäufe wegen der Zinswende eingestellt
Nun hat die EZB ihre Nettoanleihekäufe eingestellt. In kleinerem Umfang werden auslaufende Anleihen des Krisenprogramms PEPP noch bis zum Jahresende ersetzt, aber auch das endet dann. „Seitdem die EZB die Nettokäufe beendet hat und insbesondere auch die Reinvestitionen der auslaufenden Papiere reduziert wurden, fällt der erste Treiber der Target-Salden weg“, sagt Ökonom Westermann.
Zu dem zweiten Effekt: Den starken Anstieg der Target-Salden zwischen April und August 2020 deutete Westermann als „Kapitalflucht“: Investoren wollten sich in der Corona-Krise von riskanten Wertpapieren in Südeuropa trennen und lieber sichere Vermögenstitel in Deutschland erwerben. Sie taten das, indem sie die unsicheren Papiere bei ihren nationalen Notenbanken im Eurosystem als Sicherheiten hinterlegten und dafür Kredite bekamen, mit denen sie etwa in Deutschland sichere Vermögenstitel erwerben konnten. Diese grenzüberschreitenden Transaktionen zogen entsprechende Bewegungen der Target-Salden nach sich: Der deutsche Saldo stieg, die südeuropäischen wurden stärker negativ.
„Aus diesem zweiten Effekt könnte es immer noch zu neuen Target-Forderungen der Bundesbank kommen“, sagte Westermann: „Aber offenbar nutzen die Banken diese Möglichkeit nicht mehr so wie früher.“ Über die Gründe könne man nur spekulieren. Infrage komme eine zurückgewonnene Zuversicht der Märkte in Ländern wie Italien und Spanien, auch wegen der mittlerweile eingeführten zentralen EU-Mittel. Bei gestiegenen Zinsen sei es vielleicht auch nicht mehr so attraktiv für die Banken, Geld bei den Notenbanken zu leihen. „Die gestiegene Zuversicht in Italien und Spanien ist natürlich relativ zu Deutschland“, ergänzt Westermann: „Es kann auch umgekehrt sein – das Vertrauen in die deutsche Wirtschaft ist nicht mehr so stark, wie es einmal war.“
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