Handelsblatt, 11. Februar 2019.
Das Vereinigte Königreich ist ein integraler Bestandteil Europas. Es ist die zweitgrößte Volkswirtschaft des Kontinents, so groß wie die 19 kleinsten der 28 EU-Länder zusammengenommen. Ein Austritt aus der EU würde Europa im Mark erschüttern und die Nachkriegsordnung zerstören. Im Jahr 1963 hatte der Bundestag dem deutsch-französischen Vertrag eine Präambel vorangestellt, in der klargemacht wurde, dass Deutschland auch Großbritannien in die EWG holen wollte, was ja 1973 gelang.
Auch heute ist ein ähnlicher Schritt angebracht. So ist es begrüßenswert, dass auf Initiative des CDU-Politikers Norbert Röttgen die Spitzen der drei größten deutschen Parteien sowie Vertreter aus Wirtschaft und Gesellschaft einen Brief an das britische Volk gerichtet haben, in dem sie die Briten einladen, in der EU zu bleiben. Eine entsprechende Beschlussfassung des Bundestags ist denkbar.
Angesichts der schmetternden Niederlage, die Theresa May für das von ihr ausgehandelte Austrittsabkommen im Unterhaus erlitten hat, ist das Rennen wieder offen. Das drohende Unglück für Europa im Allgemeinen und das Vereinigte Königreich im Besonderen ließe sich in letzter Minute noch verhindern.
Vergessen wir nicht: Die EU würde bei einem Austritt der Briten ihre liberale Grundhaltung und ihre Weltoffenheit beim Handel gefährden, von der alle, nicht zuletzt Deutschland, profitiert haben. Ferner würde sie den uneingeschränkten Schutz einer der beiden EU-Nuklearmächte verlieren, da die Nato durch die Aktionen von Präsident Trump ohnehin an Kohärenz verloren hat.
Und das Vereinigte Königreich würde entweder seine staatliche Integrität oder den Frieden in Nordirland verlieren. Denn irgendwo müsste die Grenze ja hin. Entweder läge sie zwischen Nordirland und der Republik Irland. Dann riefe man die IRA wieder auf den Plan, und es drohte ein neuer Bürgerkrieg. Oder sie läge zwischen Nordirland und Großbritannien und damit innerhalb des Vereinigten Königreichs selbst. Und wer weiß, vielleicht läge sie dann bald an der Südgrenze Schottlands.
Der Austrittsvertrag kommt der zweiten Variante nahe, denn im Falle eines Scheiterns weiterer Verhandlungen würde er bedeuten, dass Nordirland dauerhaft wirtschaftlich eng mit der EU verbunden bleibt, während Großbritannien nur in einer Zollunion mit der EU verbliebe. Beim Weg von Nordirland nach Großbritannien, also innerhalb des Staatsgebiets des Vereinigten Königreichs, müssten dann Menschen, Kapital und Dienstleistungen kontrolliert werden. Es ist verständlich, dass die meisten Parlamentarier diesen Vertrag abgelehnt haben.
Viele Politiker der EU denken nun darüber nach, wie man den Briten entgegenkommen könnte, damit das Parlament das Austrittsabkommen doch noch ratifiziert. Das erschreckt mich, denn für Europas Integration wäre es wesentlich besser, den Briten ein Angebot zu machen, das sie in der EU hält, statt sie zu vertreiben.
Ein solches Angebot könnte anknüpfen an die Forderung des ehemaligen Premierministers David Cameron, die Magnetwirkung der besser entwickelten europäischen Sozialstaaten für EU-Migranten zu verringern. Cameron hatte recht: Wenn Menschen wegen eines höheren Lohns kommen, wird der in Europa verteilbare Kuchen größer. Kommen sie wegen besserer Sozialleistungen, wird er kleiner.
Wie wäre es, wenn diejenigen, die die Briten in der EU halten wollen, sich dafür einsetzen, dass sich in Zukunft die Gast- und Herkunftsländer der EU die Kosten der Sozialleistungen an die Migranten teilen? Die Gastländer könnten jene Sozialleistungen übernehmen, die an das Arbeitsverhältnis gekoppelt sind, wie Arbeitslosen-, Kranken- oder Rentenleistungen.
Und die Herkunftsländer könnten weiterhin für jene Leistungen zuständig bleiben, die nichts mit dem Arbeitsverhältnis zu tun haben, so Leistungen für Kinder, die zu Hause bleiben, oder für Menschen, die schon bei der Ankunft zu krank oder alt waren, um arbeiten zu können.
Eine solche Änderung des EU-Systems wäre eine Win-win-Situation für die EU, denn erstens würde der zerstörerische Sozialmagnetismus verringert, und zum anderen böte sich den Briten die Möglichkeit, in einem zweiten Referendum ihre Austrittsentscheidung erhobenen Hauptes zu revidieren.
Was ist wichtiger für Europa: das uneingeschränkte Gastlandprinzip bei den Sozialleistungen oder die Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs? Diese Frage muss sich jeder stellen, der es wirklich ernst meint mit Europa.
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