Deutschland hat riesige Ansprüche aus dem Zahlungsverkehrssystem Target der EZB. Diese darf sich Deutschland nicht entgehen lassen, mahnt Daniel Stelter.
In den vergangenen 20 Jahren ist die Bilanz der Bundesbank um den Faktor zwölf gewachsen, von 240 Milliarden Euro Ende 2002 auf 2904 Milliarden Ende vergangenen Jahres. Das entspricht einem Jahreswachstum von 13 Prozent. Überdurchschnittlich wuchsen dabei die sogenannten Target-2-Forderungen im Rahmen des Europäischen Zahlungssystems. Sie stiegen von fünf Milliarden auf 1267 Milliarden Euro mit einer Wachstumsrate von 32 Prozent pro Jahr.
Target 2 ist eine Art bei der Europäischen Zentralbank (EZB) geführtes Verrechnungskonto für Forderungen der nationalen Notenbanken des Euro-Raums untereinander aus dem internationalen Handels- und Kapitalverkehr. Wer grenzüberschreitend Geld aus Warenverkäufen oder Wertpapierverkäufen einnimmt, bekommt eine Gutschrift bei der EZB, die Käufer einen negativen Eintrag.
Die Notenbanken Italiens, Spaniens, Griechenlands und Frankreichs weisen hohe Target-2-Verbindlichkeiten gegenüber der EZB aus, während Deutschland, Luxemburg und die Niederlande hohe Forderungen haben.
Mittlerweile entsprechen die Target-Salden der Bundesbank fast der Hälfte des Nettoauslandsvermögens Deutschlands und knapp der Hälfte der Aktiva in der Bilanz der Bundesbank. Trotz dieser Größenordnung bleibt der Wertgehalt der Target-2-Forderungen umstritten.
Während der frühere Präsident des Ifo-Instituts Hans-Werner Sinn in den sich auftürmenden Salden eine Vermögensverschiebung von Deutschland zu anderen Staaten und einen erheblichen Vermögensverlust sieht, erachten Ökonomen wie Martin Hellwig Target 2 als irrelevante Buchhaltungsposition.
Das heutige EZB-Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel erklärte 2019 in einer Anhörung des Bundestags zu dem Thema gar, der Wert der Forderung läge bei null, weil sie die Deutsche Bundesbank zu nichts berechtige. Folgte man dieser Argumentation, würde in der Bilanz der Bundesbank eine gewaltige Lücke klaffen.
Doch statt darüber zu streiten, ob der hohe Target-Saldo eine werthaltige Forderung darstellt und ob diese gefährdet ist oder nicht, sollten wir lieber darüber nachdenken, wie wir die Target-Salden für unser Land nutzen können.
Dass es möglich ist, aus den Target-2-Salden einen verwertbaren Vermögenswert zu machen, hat der Münchner Investor Hans Albrecht in verschiedenen Publikationen dargelegt. Wenn Deutschland Geld nach Italien überweist, sinkt der deutsche Target-Saldo und steigt der italienische.
Wenn es nun von dort aus auf ein Konto außerhalb des Euro-Raums überwiesen wird, zum Beispiel nach London, hat das keine weiteren Auswirkungen auf den Target-Saldo, denn solche Überweisungen laufen nicht über das Target-System. Wir hätten dann Mittel in London, die wir frei verwenden können.
Angesichts der erheblichen Aufgaben, vor denen wir stehen – von der Sanierung der Infrastruktur bis zur grünen Transformation –, ist das eine sehr attraktive Perspektive. Das zu mobilisierende Volumen entspricht immerhin mehr als zwei Bundeshaushalten und übersteigt bei Weitem alle Beträge, die durch Steuererhöhungen an anderer Stelle eingetrieben werden könnten.
Der Charme an diesen Überlegungen ist, dass sie von der Bundesbank autonom umgesetzt werden könnten, also keine mühsamen Verhandlungen mit den Partnern im Euro erfordern und zugleich die Integrität des Euros nicht gefährden.
1267 Milliarden Euro sind ein zu großer Betrag, um ihn gerade in der heutigen wirtschaftlichen Lage nicht für Deutschland nutzbar zu machen. Allein der Wertverlust durch Inflation im Jahr 2022 lag bei mehr als 1000 Euro pro Kopf der Bevölkerung.
Statt also über immer höhere Abgaben – unter welchem Schlagwort auch immer – nachzudenken, ist es an der Zeit, dass das Finanzministerium mit der Bundesbank an einer Lösung arbeitet. Statt die Energie darauf zu verwenden, die Thematik zu leugnen, oder zu zeigen, dass es nicht geht, sollten wir alles daransetzen, den Schatz zu heben.
Daniel Stelter ist Gründer des auf Strategie und Makroökonomie spezialisierten Diskussionsforums „beyond the obvious“, Unternehmensberater und Autor. Jeden Sonntag geht auf www.think-bto.com sein Podcast online.
Nachzulesen auf www.handelsblatt.com.