www.thepioneer.de, 30. Juli 2020.
Hans-Werner Sinn, einer der bekanntesten Ökonomen Deutschlands, hat ein neues Buch geschrieben. In "Der Corona-Schock – Wie die Wirtschaft überlebt" schreibt er nicht nur über eine verfehlte EU-Wirtschaftspolitik, sondern auch über Klimavorgaben, die dem Klima womöglich gar nicht nützen.
Herr Professor Sinn, wenn es nach den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union geht, soll die EU gemeinsam 750 Milliarden Euro an Schulden aufnehmen. Die einen bezeichnen den Hilfsfonds als Meilenstein, die anderen befürchten eine EU auf Abwegen. Wer hat Ihrer Meinung nach recht?
Es ist notwendig, die von der Krise stark betroffenen Länder zu unterstützen und sie im Euro zu halten, sonst entsteht eine antieuropäische Stimmung. Insofern bin ich im Grundsatz mit großzügigen Hilfen einverstanden. Über den Fonds kann man freilich streiten. Das ist schon ziemlich viel Holz. Ich bin nicht damit einverstanden, dass man sich auf EU-Ebene überhaupt verschuldet. Das ist ein Tabubruch. Warum geben die Länder nicht das Geld über die EU an die Länder, die betroffen sind? Oder warum spenden sie das Geld nicht unilateral? Wenn man eine humanitäre Aktion macht, muss man sich nicht abstimmen mit anderen, das kann man auch ganz alleine. Das hätte Deutschland schon viel früher tun können. Die gemeinsame Schuld der EU ist eine versteckte deutsche Staatsschuld. Denn wir müssen dafür mit aufkommen, und dieser Aspekt gefällt mir gar nicht. Implizit haften wir sogar gesamtschuldnerisch. Denn wenn da ein Land bei der Rückzahlung in Zukunft ausschert, weil es kein Geld mehr hat, dann müssen wohl doch die anderen Länder ran. Sowas nennt man eigentlich Eurobonds.
Woher kommt das ganze Geld eigentlich?
Es ist keine Verschuldung am Kapitalmarkt, sondern die EZB steht Gewehr bei Fuß. Sie wird diese Papiere im Zuge ihres Aufkaufprogramms erwerben. Das heißt: Letztlich drucken wir frisches Geld und leiten das auf dem Wege über den Fonds nach Italien, Spanien, Griechenland, Bulgarien und sonst wo hin. Das ist nicht nachhaltig, denn wir können ja nicht einfach nur Geld drucken und dadurch irgendwelche Bedürfnisse befriedigen. Das Geld braucht einen Gegenwert. Es müsste eigentlich erwirtschaftet werden, statt aus der Druckerpresse zu kommen. Hier sehe ich potenziell am Horizont erhebliche Gefahren für die Geldwertstabilität.
Die EZB kauft aber nicht erst seit heute Anleihen auf und trotzdem ist die EU bislang von einer übermäßigen Inflation verschont geblieben. Warum sollte sich daran in Zukunft etwas ändern?
In der Krise wandert zusätzliches Geld in die Horte und wird nicht verausgabt. Das ist die Liquiditätsfalle, die schon Keynes beschrieben hat, und in der Europa wegen seiner Eurokrise steckt. Irgendwann ist die Krise aber vorbei. Die Weltwirtschaft zieht wieder an, die Löhne steigen und die Ölpreise auch, das Vertrauen in die Stabilität der Preise schwindet. Dann hat die EZB ihre liebe Not, das viele Geld wieder einzusammeln. Wir haben am Ende dieses Jahres vermutlich eine Geldmenge von über fünf Billionen Euro für eine europäische Volkswirtschaft, die vor zwölf Jahren schon mal mit 900 Milliarden auskam. Das ist mehr als das Fünffache. Vier von fünf Billionen sind eigentlich überflüssig. Ich glaube nicht, dass man die wieder aus dem Markt nehmen wird. Es ist richtig, dass man den bedrängten Ländern hilft. Es ist auch richtig, dass man sich verschuldet, um die Lasten in der Zeit zu verteilen. Aber sicherlich ist es nicht richtig, den Fonds mit der Druckerpresse der EZB zu finanzieren.
Die Gefahr einer Inflation ist die eine Sache. Kritiker warnen auch immer wieder vor einer dauerhaften Transferunion. Was genau ist damit gemeint? Einen dauerhaften Umverteilungsmechanismus gibt es durch die EU-Strukturfonds doch bereits.
Das Argument ist süffig, aber mit dieser Begründung leider falsch. Was hat denn Deutschland davon, wenn es anderen Ländern Geld schenkt, damit sie deutsche Autos kaufen können? Wir verschenken damit diese Autos. Davon haben wir nichts. Nur diejenigen, die die geschenkten Autos fahren, profitieren. Hinzu kommt, dass eine dauerhafte Transferunion natürlich auch Abhängigkeiten schafft. Die Geldtransfers stützen Lohnniveaus, die für die Industrie zu hoch sind. In Südeuropa haben wir das Problem, dass in den ersten zehn Euro-Jahren eine Wirtschafts-Blase entstanden ist, in denen sich die Löhne viel schneller als die Produktivität gestiegen sind, so dass die Güterpreise schneller als anderswo im Euroraum stiegen. Das hat die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie nachhaltig lädiert. Wir hatten schon vor Corona in Italien einen Rückgang der Industrieproduktion um etwa 20 Prozent gegenüber dem Niveau vor der Lehman-Krise. Und jetzt kommen noch einmal über 10 Prozentpunkte dazu. Italiens Industrieproduktion lag zuletzt um ein Drittel unter dem Niveau kurz vor dem Ausbruch der Finanzkrise. Das ist die reinste Katastrophe. Mit dauerhaften Transfers stützt man ein Lohnniveau, bei dem die Industrie keine Chancen mehr hat. Transfers sind ein Rezept für dauerhaftes Siechtum, aber nicht für ein dynamisches Europa, das irgendwann mal in der Lage wäre, hart auftrumpfenden Ländern wie den USA oder China die Stirn zu bieten.
Die deutsche Wirtschaft schwächelte bereits vor der Corona-Krise. Das liegt, so schreiben Sie es in Ihrem Buch, auch an den Klimavorgaben der EU, die ihrer Meinung nach wirkungslos sind.
Die deutsche Automobilindustrie wird hier in enorme Schwierigkeiten gebracht, doch unilaterale Klimapolitik bringt gar nichts. Das Öl wird auf den Weltmärkten gehandelt. Wenn wir jetzt für unsere Autos weniger Öl verbrauchen und wenn wir dann auch noch ab 2025 die Öl-Heizungen verbieten, dann wird das Öl, das wir Europäer und Deutschen freigeben, anderswo auf der Welt landen. Zu fallenden Weltmarktpreisen wird es anderswo gerne genommen und verbrannt. Das heißt, der Netto-Effekt bei den Klimagasen ist null. Um einen positiven Nettoeffekt zu haben, müsste das Öl, das wir nicht kaufen, in der Erde bleiben, aber davon ist nicht auszugehen. Die Ölproduktion folgt über Jahrzehnte hinweg einem stabilen Trend, der sich von Preisänderungen nicht hat beeinflussen lassen.
Um das Klima zu retten, fordern Sie einen weltweiten Emissionshandel. Wie wahrscheinlich ist es denn, einen solchen Handel auf weltweiter Ebene geregelt zu bekommen?
Jedenfalls viel wahrscheinlicher, als dass die europäischen Maßnahmen irgendeinen Effekt haben. Das ist die einzige Möglichkeit; wir können sonst nur wenig tun. Es gibt ja im übrigen schon den Emissionshandel über die UN. Das heißt, die Länder, die sich in den Abkommen von Kyoto verpflichtet haben zu reduzieren, können bereits die Mengen untereinander tauschen. Das ist ein etwas informeller Emissionshandel, der schon existiert. Den kann man formalisieren und ausbauen, indem man weltweit Emissionszertifikate zur Verfügung stellt. Wer Öl verbrauchen will, muss entsprechend der enthaltenen Kohlenstoffmenge Zertifikate kaufen oder vorhalten. Die Emissionsrechte werden den Ländern zugeteilt, und wer mehr haben will, muss sie anderen abkaufen. Nur so kann man weltweit das Emissionsgeschehen nachhaltig beeinflussen.
Das Interview führte Christopher Ferner.
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