Der Euro kostet Wohlstand

Warum die Gemeinschaftswährung für Deutschland und Österreich ein Problem, der Brexit eine Katastrophe ist, die niedrigen Zinsen schädlich sind, weshalb wir mit Russland netter umgehen sollten und wie Europa einen Handelskrieg mit den USA vermeiden kann.
Hans-Werner Sinn

trend., Nr. 17, 27. April 2018, S. 52.

Derzeit gibt es ja zahlreiche Themen, über die man gern mit einem prominenten Ökonomen sprechen möchte – Handelskrieg, Brexit, EZB-Politik, und zu all dem gibt es provokante Aussagen von Ihnen. Beginnen wir mit der provokantesten: Sie haben Ende 2017 gesagt, der Aufschwung in Europa sei eine „keynesianische Blase“. Seither gab es aber doch immer bessere Konjunkturdaten, die Arbeitslosigkeit geht zurück. Dennoch sprechen Sie von einer Blase?

In jeder Blase geht die Arbeitslosigkeit zurück, aber nicht jeder Aufschwung ist eine Blase. Ich spreche von einer Blase, weil die Wettbewerbsfähigkeit des verarbeitenden Gewerbes in Südeuropa noch lange nicht wiederhergestellt ist. Die Industrieproduktion liegt dort noch etwa um ein Fünftel unter dem Niveau von vor zehn Jahren. Selbst in Frankreich liegt sie um acht Prozent darunter.

Aber immerhin – den Aufschwung gibt es ja.

Der Aufschwung ist durch Staatsverschuldung zustande gekommen, und er betrifft vor allem die Binnenwirtschaft. Mit Schulden lässt sich immer ein keynesianischer Aufschwung erzeugen. Nur ist ein solcher Aufschwung nicht nachhaltig, weil die Schuldenlast erdrückend wird. Der Staat verteilt mehr Geld für Gehälter, Renten, Transferzahlungen, die Menschen geben das Geld für Restaurantbesuche aus, der Restaurantbesitzer geht zum Friseur, das eine oder andere Haus kann finanziert werden. Die Binnenwirtschaft kann so hochgezogen werden, aber genau aus diesem Grund wird die internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht wiederhergestellt, weil dieser günstige Stimulus die überhöhten Löhne, die sich in der Vor-Lehmann-Blase gebildet haben, aufrecht erhält. Deshalb ist dieser Aufschwung nicht nachhaltig.

In Österreich und Deutschland ticken die Uhren aber anders. Unsere Wirtschaft läuft sehr gut. Sehen Sie diese „keynesianische Blase“ auch in unseren Ländern?

Nein, das betrifft die südlichen Länder und auch Frankreich. Die Wettbewerbsfähigkeit in Österreich und Deutschland ist hier aus demselben Grund gestärkt worden, aus dem sie im Süden kaputt ging. Durch die inflationäre Kreditblase wurde der Süden zu teuer und der Norden relativ immer billiger. Ich glaube dass dieser Prozess über das Optimum hinausgeschossen ist. Wir sind zu billig geworden. Wenn man zu teuer geworden ist, dann kann man nichts mehr verkaufen. Wenn man zu billig ist, nimmt man zu wenig dafür ein.

Die Entwicklung im Süden hat uns also Wohlstand und Lebensstandard gekostet?

Auch das. Konkret bekommen wir zu wenige Importgüter für unsere Exporte. Die Realeinkommen in Österreich und Deutschland sind niedriger, als sie sein könnten, wäre der Außenwert des Euro höher und wären die Südeuropäer billiger. Wir könnten uns mehr Importe leisten oder bräuchten für die Importe nicht mehr so viel zu arbeiten. Der Lebensstandard wäre also höher.

Das würde aber die Exportwirtschaft schädigen und dort Arbeitsplätze kosten.

Sicherlich. Doch wäre die Wirtschaft in der Lage, die Kräfte stärker auf die Binnenwirtschaft zu konzentrieren. Arbeitskräfte, die nicht mehr in der Exportindustrie gebraucht würden, fänden hier Beschäftigung. Viele Leute scheinen zu glauben, ein Land hätte einen Vorteil, wenn es all seine ganze Kraft in den Export statt in die Binnenproduktion steckt. Das ist ein großer Denkfehler. Es gibt für alles ein Optimum, auch für die Aufteilung der Arbeitskraft auf Binnenund Exportwirtschaft.

Stärkt der dadurch „zu billig“ gewordene Euro aber nicht auch Länder wie Österreich und Deutschland im Handelskrieg, den US-Präsident Trump nun offenbar austragen will?

Ja, schon, er unterstützt die Exporte gerade auch in Europa und hier besonders im deutschsprachigen Teil Europas. Nur wäre es ja doch wohl besser, selbst höhere Preise zu verlangen, anstatt dass die Preise über Zölle erhöht werden, die dann Trump kassiert.

Wobei Sie in Ihrem Buch doch einigermaßen provokant den „trügerischen Jubel über die Exportweltmeisterschaft Deutschlands“ kritisieren.

Das ist überhaupt nicht provokant. Hier wird ja suggeriert, wir hätten einen Vorteil aus den Exportüberschüssen. Davon kann aber keine Rede sein.

Und warum nicht?

Exportüberschüsse sind Nettolieferungen von Gütern an das Ausland. Erst einmal haben also die Ausländer die Güter und können sie verbrauchen. Dort liegt der primäre Vorteil. Die Inländer haben insofern einen Vorteil, als sie dafür Importe kriegen oder Vermögenstitel im Ausland ansammeln können, die zu Erträgen führen, mit denen man später und länger Importe bezahlen kann. Das Problem: Bald die Hälfte des deutschen Nettoauslandsvermögens, das im Laufe vieler Jahre durch Exportüberschüsse aufgebaut wurde, wurde von der Deutschen Bundesbank durch bloße Target-Kredite 1 finanziert.

Sie kritisieren ja, dass diese Target-Forderungen rein theoretisch bestehen und vermutlich nie zurückgezahlt werden. Aber wo führt das hin? Gibt es da einen Ausweg?

Das führt in die Sackgasse oder zu einem riesengroßen Streit, weil diese Target-Forderungen vermutlich nie mehr bedient werden. Sie werden schon heute im Euro nicht mehr verzinst, und sollte der Euro eines Tages platzen, dann kann man sie gleich wegstreichen. Aber das könnte man ja eigentlich heute schon.

Warum?

Weil sie eine Forderung der Bundesbank sind, die nie fällig gestellt werden kann und deren Verzinsung dem Hauptrefinanzierungssatz des Eurosystems entspricht, der aber wiederum von der Mehrheit der Vertreter der Target-Schuldnerländer im EZB-Rat bestimmt wird. Derzeit halten sie einen Zins von null für angemessen. Aber was ist denn eine Forderung wert, die man nicht fällig stellen kann und bei der der Zins vom Schuldner bestimmt wird? Eine private Unternehmung müsste so eine solche Forderung auf null abschreiben.

Was würde mit der deutschen Bundesbank passieren, müsste sie das tun?

Dann wäre sie formal pleite. Allerdings kann eine Zentralbank ja auch mit negativem Eigenkapital weiterarbeiten.

Zurück zum Handelskrieg, der ja in erster Linie zwischen den USA und China tobt. Ist das auch für Europa eine Gefahr?

Schon. Die Reaktion Chinas zeigt aber, dass man hier noch auf ein gewisses Verhandlungspotenzial setzt und nicht bereit ist, Trump in einem Eskalationsszenario zu folgen, wie die EU das will.

Was sollte die EU stattdessen tun?

Es wäre sinnvoll, die Eskalationsspirale wieder nach unten zu drehen und Trumps Forderung nach Zollsenkung zu akzeptieren. Wenn ein amerikanisches Auto nach Europa geliefert wird, liegen zehn Prozent Zoll darauf. Umgekehrt sind es nur 2,5 Prozent. Wir könnten doch anbieten, unsere Zölle zu senken. Das geht auch beim Agrarmarkt. Europa hat einen extrem protektionistischen Agrarmarkt, wo durch Zölle die Preise der importierten Agrarprodukte vom Weltmarktniveau auf das europäische Niveau angehoben werden. Dadurch wird der Wettbewerbsvorteil billiger ausländischer Produkte zunichte gemacht. Das geschieht zu Lasten der Armen in Europa, die einen großen Teil ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben, und auch zu Lasten vieler Erzeuger in der Dritten Welt.

In Ihrem Buch widmen Sie sich auch auf breitem Raum dem Thema Migration. Sie plädieren einerseits dafür, Migranten in den Arbeitsmarkt einzugliedern, stellen aber andererseits auch fest, dass dies die Löhne vor allem in unteren Bereich drücken würde. Ist das politisch umsetzbar?

Es ist schwierig. Daher bin ich ja auch dagegen, dass man die Immigration gering Qualifizierter zulässt, wenn kein Asylgrund vorliegt. Die Immigration von gering Qualifizierten erhöht die Spannungen in der Einkommensverteilung in Deutschland und Österreich und erzeugt viele Probleme. Aber wenn sie nun schon da sind, dann müssen sie natürlich arbeiten können.

Was soll man stattdessen tun?

Am besten ist es, sie kommen nicht. Wenn sie nun aber schon da sind, ist es die schlechteste Lösung, sie an der Arbeit zu hindern. Die meisten Flüchtlinge in Deutschland, nämlich knapp eine Million, sind Hartz-4-Bezieher. Das darf kein Dauerzustand sein.

Wenn wir die Betroffenen in den Arbeitsmarkt integrieren, würde das Druck auf die Löhne minder qualifizierter Inländern ausüben?

Stimmt. Deshalb sollte man die Wirtschaftsflüchtlinge zurückschicken und nur die echten Asylbewerber behalten.

Niedrige Löhne bedeuten aber auch wenig Inflationsdruck. Wird es nie wieder Inflation geben?

Doch, lang-, vielleicht auch mittelfristig kann es schon wieder Inflation geben. Denn die gewaltige Aufblähung der Geldmenge durch die Europäische Zentralbank wird sich irgendwann bemerkbar machen. Wir haben ja jetzt schon in einigen Ländern der Euro-Zone, allen voran Deutschland, einen ungestümen Bauboom, der die Löhne hochtreibt. Zuletzt gelang es der Gewerkschaft ver.di, die Löhne kräftig zu erhöhen. Das Klima schlägt allmählich in Richtung stärkerer Lohnforderungen und höherer Inflationsraten um. Wann wird die Inflation kommen? Der Inflationstanker ist sehr, sehr träge. Es wird schon noch dauern, bis dieser Tanker Fahrt aufnimmt. Aber wenn er einmal fährt, lässt er sich kaum noch stoppen, weil die EZB die knapp zwei Billionen Euro an Staatspapieren, die sie mit frischem Geld aus der Druckerpresse gekauft hat, kaum wieder zurückverkaufen können wird, ohne die Staaten Südeuropas in die Pleite zu treiben.

Dann werden auch wieder die Zinsen steigen?

Fallende Kurse bedeuten steigende Zinsen. Es gibt es zwei Hypothesen. Die eine: Die EZB möchte im Sinne des Ganzen eine kluge Geldpolitik machen. Die andere: Sie möchte die säumigen Schuldner Südeuropas retten. Wenn die erste Hypothese stimmt, werden die Zinsen in Europa steigen, weil sie in Amerika aufgrund der Schuldenpolitik von Trump ohnehin steigen. Wenn die zweite stimmt, dann werden sie nicht so ohne weiteres steigen. Die EZB hat das ja in der Hand – da gibt es viele Möglichkeiten, um die Zinsen niedrig zu halten, obwohl die Inflation steigt.

Das würde aber die Sparer enteignen.

Ja. Und es würde auch einen Selbstverstärkungseffekt der Inflation auslösen, da die niedrigen Zinsen zu einer Abwertung des Euro führen würden, was wiederum die Importpreise steigen ließe. Es würde alles teurer.

Sie beschreiben in Ihrem Buch auch ein anderes Schreckensszenario - nämlich den Austritt Englands aus der EU. Es liest sich, als sei das für Sie in der Nähe einer Katastrophe.

Was heißt Nähe? Es ist eine mittlere Katastrophe!

Warum?

Deutschlands erklärte Politik der Nachkriegszeit war es, nicht nur den Ausgleich mit Frankreich zu suchen, sondern auch die Briten in die EWG zu holen. Das gelang erst im dritten Anlauf, 1973, nach dem Tod von de Gaulle. Seither gab es 45 Jahre Mitgliedschaft der Briten in der EU. Davon hat nicht zuletzt Deutschland profitiert, indirekt auch Österreich, und zwar im doppelten Sinne: Erstens war das ein interessanter Exportmarkt, zweitens, und noch viel wichtiger, haben die Briten mit ihrer weltoffenen, liberalen Grundorientierung dafür gesorgt, dass die EU nach außen hin nicht zu viele Handelsschranken errichtet. So konnte sich die Industrie Deutschlands und Österreichs unter dem Schutz der liberalen britischen Haltung prächtig entwickeln und auf den Weltmärkten etablieren. Dieser politische Schutz geht jetzt verloren.

Und das hat tatsächlich so negative Konsequenzen?

Natürlich. Blicken wir auf die Stimmverhältnisse im europäischen Ministerrat. Dort verfügt eine Ländergruppe, die mindestens 35 Prozent der Bevölkerung vertritt, über eine Sperrminorität. Vor dem Brexit hatten die „nördlichen“ Länder – unter anderem Großbritannien, Deutschland, Österreich und die Niederlande – 39 Prozent, die mediterranen Ländern 38 Prozent. Nimmt man Großbritannien aus der Rechnung, so stehen nur noch 30 Prozent gegenüber 43 Prozent, mit der Folge, dass die mediterranen Länder ihre Sperrminorität noch ausbauen, der Norden die seine aber verliert. Die politischen Verhältnisse in Europa ändern sich also dramatisch.

Mit welchen Folgen?

Dass wir eine Festung Europa bekommen, in der sich die nicht mehr wettbewerbsfähigen Industrien Frankreichs und Südeuropas gegenüber dem Rest der Welt abschotten.

...zu Lasten der deutschen und österreichischen Exportwirtschaft

... man sieht ja auch, wie der Franzose Michel Barnier auf Seiten der EU die Verhandlungen führt. Da ist man eher auf Konfrontation aus, also eine Lösung mit Handelsschranken und Zöllen.

Was waren ihrer Meinung nach die Motive der Briten, für den Brexit zu stimmen?

Die Sorge, von Brüssel dominiert zu werden, die Machtusurpation der EU. Aber am meisten hat man sich über die Migration aufgeregt. Das hat die Mehrheit kippen lassen. Im Juni 2016 wurde gewählt, da war gerade die massive Flüchtlingswelle gelaufen. Da befürchteten die Briten, dass die Flüchtlinge entweder illegal ins Land kämen oder sich Frau Merkel mit ihren Kontingenten durchsetzen würde.

Ist Frau Merkel, wie das auch schon in Österreich zu hören war, die Hauptschuldige am Brexit?

Sie war das Zünglein an der Waage.

Probleme gibt es auch mit einer anderen Region am Rande Europas, nämlich Russland. Die USA verschärfen die Sanktionen, Sie hingegen plädieren – wie auch die österreichische Bundesregierung – für eine moderate Politik. Warum?

Aus historischer Verantwortung und aus wirtschaftlicher Vernunft. Russland ist mit seinen Ressourcen der natürliche Handelspartner der Industrie Europas. Länder mit ähnlich strukturierter Wirtschaft haben nicht so viel vom Handel wie unterschiedliche Länder, und Russland ist sehr unterschiedlich zu Westeuropa. Im Osten liegen große Chancen für eine europäische Entwicklung, nämlich darin, dass man die Ressourcen kombiniert mit der Hochtechnologie des Westens. Wer hat denn Interesse, dass sich das so entwickelt? Die Amerikaner sicher nicht.

Sie sagen in Ihrem Buch ja auch, dass es ein Fehler war, die NATO geografisch näher an Russlands Grenzen zu rücken.

Das sagt nicht nur Hans-Werner Sinn, das sagt vor allem Henry Kissinger.

Das Interview führte Franz C. Bauer.

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