Münchner Merkur (ref. Project Syndicate, 7. Februar 2023), 11. Februar 2023, sowie auf Frankfurter Rundschau online, 10. Februar 2023, Finanz und Wirtschaft, 8. Februar 2023 und als "Europe at Debt's Door", The Jordan Times, 9. Februar 2023.
Der für die Wirtschaft zuständige EU-Kommissar Paolo Gentiloni braucht Geld, viel Geld. Und da er das Geld nicht direkt von den EU-Ländern bekommt, will er sich verschulden. Wofür, das scheint fast schon egal zu sein. Hauptsache das Geld fließt. 2020 spielte er eine entscheidende Rolle beim Beschluss über den Next Generation EU Fonds, mit dem zur Bekämpfung der Corona-Folgen eine Schuldenaufnahme von über 800 Milliarden Euro ermöglicht wurde. Im Mai 2022 wollte er Kredite aufnehmen, um die Hilfen für die Ukraine zu finanzieren. Im Oktober 2022 wollte er, dass die EU sich verschuldet, um die Gaskäufe der Bürger Europa zu finanzieren. Und nun fordert er neue EU Schulden, um einen Subventionswettlauf mit den USA zu bestehen, die selbst freilich für die geplanten Subventionen neue Abgaben beschlossen haben (Inflation Reduction Act).
Tatsächlich scheinen die plakativen Begründungen nur ein Vorwand zu sein, um an mehr Geld zu kommen. So wurden die Corona-Mittel im Zuge des NG-EU-Fonds unter den Bürgern Europas nach einer Methode verteilt, die keinerlei Korrelation mit der Schwere der Pandemie, wohl aber eine negative Korrelation mit dem BIP pro Kopf aufweist. Auffällig viel bekamen einzelne ärmere Länder, die nur wenige Covid-Fälle zu beklagen hatten.
Ein großes Problem bei Gentilonis Politik ist, dass sich die EU nach ihren eigenen Regeln gar nicht verschulden darf. Artikel 311 Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (TFEU) legt eindeutig fest, dass die EU sich „vollständig aus Eigenmitteln“ finanzieren muss, also nicht auf Fremdkapital, also Schulden, zurückgreifen darf. Deshalb war beim Next-Generation-Beschluss auch Einstimmigkeit unter allen EU-Ländern erforderlich.
Aus ökonomischer Sicht liegt ein wesentliches Problem in der unklaren Traglast der Schulden. Häufig wird der EU entgegen gehalten, dass ihre Politik zu einer Belastung zukünftiger Generationen führe, die den Schuldendienst zu leisten haben. Dieser Hinweis ist zwar grundsätzlich richtig, stimmt aber heute so dennoch nicht, denn die Lasten liegen ganz wo anders.
Europa leidet nämlich wie so viele Länder der westlichen Welt unter einer massiven Inflation, ja Stagflation. Eine Stagflation ist eine Situation, in der das Angebot aus strukturellen Gründen begrenzt ist, sei es durch Pandemie, Krieg, Streiks, Energieknappheit, ineffiziente Verwaltungsstrukturen oder demographische Probleme, während die Nachfrage künstlich auf einem Niveau stabilisiert wird, das über den durch die Produktion verdienten Einkommen der Menschen liegt. Der Nachfrageüberhang erzeugt die Inflation.
Die Staatsverschuldung ist das wichtigste Mittel, mit dem die Politik zu einem solchen Nachfrageüberhang über das Angebot beiträgt, denn anders als bei einer Steuerfinanzierung des Staates werden die wirklich Belasteten durch die Inflation vernebelt und reagieren zunächst nicht durch Nachfragekürzungen.
Die Inflation ebbt inzwischen schon wieder etwas ab, doch ist sie noch riesengroß. Am aktuellen Rand liegt die Inflationsrate in der Eurozone bei 8,5 %. Das ist mehr als vier Mal so hoch wie jener Wert, der gemeinhin als Obergrenze der tolerierbaren Inflation angesehen wurde (2%). Da sogar die um die Energie- und Nahrungsmittelpreise bereinigte Kern-Inflationsrate zuletzt auf 7% hochschnellte, ist ein nachhaltiger Rückgang der Inflation vorläufig nicht zu erwarten.
Perspektivisch bereitet sich eine neue Welle der Inflation aufgrund hoher Lohnforderungen der Gewerkschaften vor. Auch in den 1970er Jahren, während der letzten großen Inflation, setzte eine Preis-Lohn-Preisspirale erst mit Verzögerung ein. Auch der Krieg in der Ukraine, der zur Unterbrechung der russischen Energielieferungen nach Europa führte, sowie die der bevorstehende Eintritt der Baby-Boomer in das Rentenalter sprechen für eine dauerhaft hohe Inflationsgefahr.
Wegen der Inflation sind es nicht die zukünftigen Generationen, die heute die Last der Verschuldung tragen, sondern die heutigen Sparer und Rentner, die sich Zeit ihres Arbeitslebens mühsam die Groschen vom Munde abgespart haben, um ihren Lebensstandard im Alter abzusichern. Besonders die Kleinsparer, die zu wenig haben, um ihr Geld in Realvermögen anlegen zu können und deshalb nominalwertgesicherte Vermögenstitel wie Sparguthaben oder Lebensversicherungen erworben haben, sind die Opfer. Sie tragen die Last jeder weiteren Verschuldung der staatlichen Instanzen, sei es auf nationaler oder auf europäischer Ebene. Diese Last ist nicht nur ungerecht, sie kann im Endeffekt auch solch massive Umverteilungseffekte hervorrufen, dass darüber die Gesellschaft zerbricht.
Der deutsche Schriftsteller Stefan Zweig hat in seinen Lebenserinnerungen sehr plastisch beschrieben, wie die deutsche Inflation vor hundert Jahren das Kleinbürgertum verarmen ließ und radikalisierte. Nichts habe die Deutschen so „hasswütig und hitlerreif“ gemacht wie die große Inflation. Der amerikanische Historiker Gerald Feldman hat diese Position in seinem tausendseitigen Standardwerk über die deutsche Inflation mit einer beeindruckenden Fülle von Fakten untermauert.
Sicher, heute ist Europa noch längst nicht in der Nähe einer Hyperinflation wie sie Deutschland vor hundert Jahren erlebte. Doch jede Inflation fängt einmal klein an. Insofern heißt es „principiis obsta“, „Wehret den Anfängen“. Jedwede neue Schulden der EU sind nicht nur rechtlich fragwürdig, sie sind ökonomisch verantwortungslos.
Die von der EU-Kommission und auch von den nationalen Regierungen der EU geplanten neuen Schulden, für die man neue Begründungen sucht und die alten Schuldenregeln schleifen möchte, sind eindeutig inflationär. Sie bedeuten, dass Europa keine Stabilitätsgemeinschaft mehr ist. Die verteilungspolitischen Konsequenzen könnten die europäische Gesellschaft spalten und den Euro gefährden.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch die Bonität der europäischen Staatsanleihen leiden wird und Verhältnisse erzeugt, wie sie Großbritannien gerade unter Premierministerin Liz Truss erlebt hat, die allen Warnungen zum Trotz die ohnehin sehr hohe Staatsverschuldung noch weiter erhöhen wollte. Das Finanzkapital floh vor den Folgen einer solchen Politik, das Pfund wertete ab, das Land erzitterte, und die Premierministerin musste ihr Regierungsamt nach nicht einmal zwei Monaten niederlegen.
Die Notenbanken der USA und der Eurozone nehmen die Inflationsgefahr inzwischen sehr ernst und versuchen, ihr mit steigenden Zinsen entgegen zu wirken. Es wäre verheerend für die Stabilität des Euro und der europäischen Einigungsidee, wenn die EU auf ihrem kommenden Summit tatsächlich dem von Gentiloni vorgeschlagenen Kurs folgen würde. Jedwede Verschuldung, so gut auch immer die proklamierten Zwecke sein mögen, ist heute inflationär.
Das heißt nicht, dass man die guten Zwecke nicht verfolgen sollte. Nur muss man heute Ross und Reiter nennen und durch Steuererhöhungen oder Transferkürzungen so viele staatliche Mittel freimachen, wie an anderer Stelle benötigt werden. Die Parlamente der Eurozone müssen der EU das gewünschte Geld aus den nationalen Haushalten zur Verfügung stellen, und wenn sie es nicht wollen, dann ist es eben nicht da.
Nachzulesen auf www.merkur.de, www.fr.de, www.project-syndicate.org und www.fuw.ch.