Wie man Firmen (nicht) vertreibt

Matthias Auer, Die Presse, 21. Mai 2023, S. 17.

Es war wieder einmal Hans-Werner Sinn, der den Stein ins Rollen brachte: „Deutschland ist dabei, durch seine extremistische Klimapolitik die eigene Industrie zu ruinieren, und wir setzen damit ein Negativbeispiel für die ganze Welt“, sagte der ehemalige Ifo-Chef zu Frühlingsbeginn der „Osnabrücker Zeitung“. Strenge Regularien, hohe CO2- Preise, die ambitioniertesten Klimaziele, Technologieverbote – all das zwinge den Standort in die Knie und die Unternehmen in den Exodus. Irgendwohin, wo das Klima nicht ganz so bierernst genommen werde.

Inzwischen sind auch Europas konservative EVP-Politiker voll auf den Zug aufgesprungen: Die bereits paktierte Verschärfung der Klimaziele wird infrage gestellt, der „Green Deal“ der EU soll plötzlich neu aufgeschnürt werden. Denn wenn Europa die Kosten für CO2 einseitig nach oben schraube, seien die Unternehmen bald weg, die Emissionen würden anderswo in die Luft geblasen – und niemand hätte gewonnen, warnen sie. Stimmt das auch?

Schattenpreis. Bisher haben Forscher kaum Anhaltspunkte gefunden, dass CO2-Steuern oder der EU-Emissionshandel große Wanderbewegungen ausgelöst hätten. Das ist keine große Überraschung. Immerhin war der Preis die längste Zeit vernachlässigbar klein, und auch heute haben vier Fünftel aller Emissionen weltweit kein Preisschild.

Aber was, wenn man auch implizite Kohlendioxidkosten mit berechnet? Also etwa alle Steuern auf fossile Brennstoffe, alle Subventionen für Erneuerbare, alle Regularien, alle grünen Quoten, alle Verbote – eben die ganze Palette, die derzeit aufgefahren wird? Die beiden Ökonomen Arjan Trinks und Erik Hille vom CPB Netherlands Bureau for Economic Policy Analysis haben sich die Mühe gemacht, und siehe da: Die impliziten CO2-Kosten sind nicht zu verachten. Diese Schattenpreise haben sich zwischen 2010 und 2019 verdoppelt und liegen heute 15 Mal höher als der direkte CO2-Preis. Firmen in Europa zahlen deutlich mehr als in Russland, Indien, aber auch in den USA.

Wo wird investiert? Doch die beiden Forscher haben auch eine gute Nachricht: Die Mahner haben die Anpassungsfähigkeit und Innovationskraft der Industrie unterschätzt. Von 3,1 Millionen untersuchten Unternehmen hat kaum eines Reißaus genommen, die meisten gaben die höheren Kosten weiter, verdienten solide und investierten zudem beträchtliche Summen in die Dekarbonisierung ihres Geschäfts.

Ein derartiges Unternehmen ist der Schweizer Zementhersteller Holcim, der wie die ganze Branche im Produktionsprozess große Mengen Kohlendioxid emittiert – und in Europa entsprechend zur Kasse gebeten wird. „Ich könnte woanders investieren, aber ich sehe unsere Zukunft hier“, sagt CEO Jan Jenisch zur „Presse am Sonntag“. „Wir sind der größte Baustoffkonzern, aber in Zukunft werden wir der größte grüne Recycler sein“, ist er überzeugt. Österreich-Chef Berthold Kren steuert dafür die notwendigen Technologiesprünge bei: Seit den 1990ern sind die Emissionen der Zementproduktion um die Hälfte gefallen. Das jüngste Produkt besteht zu einem Fünftel aus Bauschutt, und ein Teil des Kohlendioxids, das im Prozess entsteht, wird noch in der Fabrik im Zement gebunden. Eine Weltpremiere, die bald in anderen Holcim-Werken wiederholt werden soll.

Aber sind reiche Zementhersteller aus der Schweiz wirklich idealtypisch für die Masse der europäischen Unternehmen? Nicht alle haben das notwendige Kleingeld für eine kostspielige Neuerfindung. Nicht alle haben ein Produkt, das sich so schwer über weite Strecken transportieren lässt wie Zement. Eine Flucht aus Europa haben die Forscher auch in anderen Branchen nicht gefunden. Das könne sich ändern, denn noch seien die CO2-Kosten vergleichsweise niedrig, geben sie zu bedenken. Und die entscheidende Frage ist ja nicht, ob ein österreichischer, deutscher oder französischer Unternehmer schon heute so verzweifelt ist, dass er sein Stammwerk in der Heimat zusperrt, sondern wo er investiert, ob die Industrien von morgen auch noch am Kontinent entstehen.

Hier sieht das Bild schon deutlich düsterer aus. Autokonzerne tragen ihr Geld bestenfalls nach Osteuropa, meist aber nach Asien. Aber auch grüne Hoffnungsträger wie der deutsche Wärmepumpenhersteller Viessmann sah in Europa keine Zukunft mehr für sich. Der Verkauf des Kerngeschäfts an den US-Konkurrenten Carrier Global rüttelte Berlin wach. Nicht nur dort stellen sich Regierende die Frage: Haben wir vor lauter Klimaschutz schlichtweg vergessen, der grünen Industrie von morgen eine reale Chance zu geben?

Politik muss berechenbar sein. Holcim-Österreich-Chef Berthold Kren gibt Entwarnung: „Ein hoher CO2-Preis ist für uns der Hebel Nummer eins. Wenn CO2 nur fünf Euro kostet, rechnen sich unsere Investitionen nicht“, sagt er. Doch der Manager ist in einer besonderen Lage: Sein Betrieb gilt als Innovationsführer der Branche, für etliche Projekte flossen auch EU-Förderungen.

Nicht alle haben so viel Glück. Etliche Unternehmen fühlen sich beim teuren Übergang zu einer grünen Produktionsweise bisher alleingelassen. Erst am Freitag gab Österreich endlich die ersten 175 Millionen Euro aus dem lange versprochenen und mit drei Milliarden Euro dotierten Transformationsfonds frei. Aber Geld alleine ist es gar nicht, was die Unternehmen bräuchten, sagen Arjan Trinks und Erik Hille. Gute Klimapolitik müsse im Grunde nur klar und vorhersagbar sein. Angekündigte Gesetze sollten kommen, versprochene Mittel fließen, vereinbarte Ziele halten. Klingt einfach, ist aber offenbar schwierig genug.

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