Süddeutsche Zeitung, 19. September 2011, Nr. 225, S. 18.
Bis Ende August hat die Bundesbank bereits 390 Milliarden Euro an die EZB verliehen, und täglich werden es mehr.
Lange war es eine ungewohnte Materie im Zusammenhang mit der vieldiskutierten europäischen Verschuldungskrise, und bis heute sind es eher die Experten, die etwas mit dem Stichwort „Target-Kredite“ anfangen können? Ein Thema, geeignet sogar für Verschwörungstheorien. Hat die Bundesbank womöglich auf verborgenen Kanälen griechischen, irischen, portugiesischen und spanischen Geschäftsbanken Geld zugeschoben, wie manche mutmaßen (SZ vom 17./18. 9. 2011)? Davon kann keine Rede sein, denn die Bundesbank berichtet ja im Gegensatz zur EZB regelmäßig über diese Geschäfte.
Der Vorwurf, den auch Ex-Bundesbank-Präsident Schlesinger seiner Behörde letzte Woche im Ifo-Schnelldienst gemacht hat, ist nicht, dass sie konspirativ tätig ist, sondern dass sie den Vorgang verharmlost. Dieser Artikel versucht, den Sachverhalt zu erläutern.
Es handelt sich bei den Target-Krediten um eine Verlagerung der normalen Geldschöpfung zwischen den Euro-Ländern – konkret aus Deutschland in die GIPS-Länder –, die dazu dient, das Versiegen der privaten Kapitalzuflüsse in diese Länder und die Kapitalflucht von dort zu kompensieren. Da die GIPS-Länder in der Krise ausländischen Kredit nur noch zu hohen Zinsen bekamen, durften sie sich durch eine Ausweitung der Notenbankkredite zu Lasten der entsprechenden Kredite in Deutschland selbst helfen. Die Bundesbank musste der EZB dafür einen Kredit einräumen, und die EZB gab den Kredit an die GIPS-Länder weiter.
Der Kredit heißt „Target“, weil dies der Name des internationalen Zahlungsverkehrs im Euro-Raum ist. In dem ökonomischen Kern handelt sich um einen ähnlichen zwischenstaatlichen Kredit, wie er nun durch den EFSF organisiert werden soll, über den der Bundestag noch in diesem Monat beschließen wird. Die Ähnlichkeit besteht im Hinblick auf die Verlagerung von Verfügungsrechten über echte ökonomische Güter und die deutsche Haftung, nicht aber in den äußerlichen Aspekten des Geschehens. Die Details dazu sind veröffentlicht (Sinn und Wollmershäuser, CES-ifo Working Paper Nr. 3500). Es gab einen Rettungsschirm vor dem Rettungsschirm.
Die Kreditvergabe zwischen den europäischen Zentralbanken spielte bis zum Jahr 2007 praktisch keine Rolle, erhöhte sich jedoch in der Finanzkrise dramatisch. Im Juni 2011 lag die Target-Schuld der GIPS-Notenbanken bei 327 Milliarden Euro, und ähnlich groß war die Forderung der Bundesbank. Alle Zahlen schießen am aktuellen Rand aber nach oben. Bis Ende August sind die Target-Forderungen der Bundesbank bereits auf 390 Milliarden Euro gestiegen; allein im August waren 47 Milliarden Euro hinzugekommen.
Mit den Target-Krediten werden die Zahlungsbilanzdefizite der GIPS-Länder finanziert. Ein Zahlungsbilanzdefizit ist, grob gesprochen, jener Teil des Importüberhangs über die Exporte (im Sinne der Leistungsbilanz), der nicht durch eine Kreditaufnahme im Ausland, sondern durch frisch gedrucktes Geld finanziert wird. Theoretisch kann man ihn auch noch durch den Abbau von schon vorhandenen Geld- und Devisenbeständen finanzieren, aber das spielte faktisch keine Rolle.
Die GIPS-Länder konnten ihr Zahlungsbilanzdefizit mit der Druckerpresse schließen, weil es keine länderspezifischen Kontingente für die europäische Geldversorgung gibt und der Zentralbankrat den Verleih von Zentralbankgeld durch die fortwährende Absenkung der Sicherungsanforderungen erleichtert hatte.
In Portugal und Griechenland wurde in den letzten drei Jahren der gesamte Importüberhang so finanziert, in Spanien nur etwa ein Viertel. In Irland wurde der Importüberhang und zusätzlich noch eine gewaltige Kapitalflucht finanziert. Das viele Zusatzgeld, das wegen der automatischen, unbegrenzten Kreditvergabe zwischen den Zentralbanken gedruckt werden konnte, ersetzte das Geld, das man sich früher privat im Ausland geliehen hatte, und floss wie dieses Geld für die Bezahlung von Rechnungen wieder dorthin zurück. Es verdrängte dort den Notenbankkredit, über den Geld normalerweise geschaffen wird, eins zu eins.
Es war wie zur Zeit des Bretton-Woods-Systems, des weltweiten Festkurssystems, das 1971 auseinanderbrach. Die Amerikaner hatten damals ihren Güterimport aus Deutschland mit Geld bezahlt, das die Zentralbank frisch gedruckt und an die Banken verliehen hatte. Die Dollars flossen an die deutschen Exporteure, und die Bundesbank tauschte die Dollars in D-Mark um. So wie die „Dollarmark“ damals den Notenbankkredit in Deutschland zugunsten des Notenbankkredits in den USA verdrängte, verdrängen die „GIPS-Euros“, die die Bundesbank nach der Überweisung in deutsche Euros umwandeln muss, den Notenbankkredit in Deutschland.
Damals sprach man von einem durch das Währungssystem erzwungenen Kapitalexport von Deutschland in die USA, der den Vietnamkrieg finanzierte. Heute handelt es sich um einen Kapitalexport von Deutschland in die GIPS-Länder, um dort den Lebensstandard zu erhalten, immerhin 61 Prozent des gesamten deutschen Kapitalexports während der letzten drei Jahre. Damals konnte die Bundesbank für die erhaltenen Dollars verzinsliche Wertpapiere in den USA erwerben. Heute erwirbt sie eine verzinsliche Forderung gegen die EZB. In beiden Fällen war sie Sklave des Systems ohne eigene Entscheidungsbefugnis.
Innerhalb der USA gibt es zwischen den Distrikten der nationalen Zentralbank (Fed) ebenfalls Target-ähnliche Salden. Dort muss eine Distrikt-Fed diese Salden allerdings einmal im Jahr durch Hergabe von Goldzertifikaten oder anderen marktgängigen und normal verzinslichen Wertpapieren ausgleichen. Die Kreditaufnahme durch das Zentralbankensystem ist deshalb unattraktiv.
Die Target-Kredite im Euro-Raum sind demgegenüber hoch begehrt, weil sie zu einem Zins zur Verfügung stehen, der nicht einmal die Inflationsrate deckt. Deshalb hat sich Irland mit Händen und Füßen gewehrt, als es im letzten Herbst die Target-Kredite durch die viel höher verzinsten EFSF-Kredite ersetzen sollte. Wie attraktiv das alles für Deutschland ist, und ob unser Land seine Target-Forderungen jemals wird eintreiben können, darüber kann man streiten.