Handelsblatt, 21. Januar 2015, S. 14.
Das Handelsblatt durchleuchtete jüngst die Theorien des deutschen Star-Ökonomen Hans-Werner Sinn. Zugleich widmeten sich mehrere seiner Wissenschaftskollegen kritisch seinen fünf Kernthesen. Nun antwortet ihnen der Münchener Professor, dessen Arbeiten und Aussagen auch unsere Leserschaft spalten.
Meinen Glauben an den rationalen öffentlichen Diskurs möchte ich trotz der Angriffe auf meine Person nicht aufgeben. Ich hoffe, ich kann zumindest meine Kritiker vom DIW überzeugen, dass wir näher beieinanderliegen, als sie meinen.
Target-Saldo: Lieber Herr Fratzscher, warum unterstellen Sie mir die Meinung, Europa brauche das Zahlungssystem Target nicht, und reden um den Brei herum? Ihr Leser erfährt nicht, dass die Target-Salden die Sonderkredite und Finanzmittel messen, die sich die bedrängten Länder der Euro-Zone wegen der Herabsenkung der Sicherheitsstandards für Refinanzierungskredite aus den nationalen Druckerpressen ziehen durften, 1 000 Milliarden Euro in der Spitze. Wenn man die Kredite, die auf diese Weise zwischen den Notenbanken entstehen, durch Tilgung glattstellt, bricht das Zahlungssystem nicht zusammen, wie Sie meinen, sondern es entsteht eine Situation wie zwischen den zwölf regionalen Zentralbanken der USA, die ihre Target-Salden jährlich mit Wertpapiertransfers tilgen, bis 1975 sogar mit Gold. Die einzelnen Zentralbanken haben dann weniger Anreiz, die fehlenden Kreditmittel aus der nationalen Druckerpresse aufzufüllen, was die Banken zwingt, ihren ausländischen Gläubigern risikogerechte Zinsen anzubieten, und die Kapitalflucht reduziert.
Sie betonen, scheinbar im Gegensatz zu mir, dass die Target-Kredite Fluchthilfe für die Investoren aus aller Welt waren, auch aus Deutschland. Aber das ist kein Gegensatz, weil ich ja in meinen Büchern ("Die Target-Falle", Econ 2012; "The Euro Trap", Oxford University Press 2014) genauso argumentiert habe. Der Steuerzahler, der als stiller Eigentümer hinter der EZB steht, sollte den Investoren indes keine Fluchthilfe für Bankanlagen gewähren, auch weil die damit implizit verbundene Fluchthilfe aus Staatspapieren nach Artikel 125 des EU-Vertrags (No-bail-out-Klausel) verboten ist.
Im Übrigen wurde der Kredit aus der Druckerpresse in Griechenland und Portugal für ein halbes Jahrzehnt zunächst einmal dafür verwendet, die riesigen Leistungsbilanzdefizite zu finanzieren.
Basar-Effekt: Lieber Herr Bofinger, richtig, im Jahr 2003 schrieb ich in meinem Buch "Ist Deutschland noch zu retten?", dass die deutschen Arbeiter um 15 Prozent billiger sein müssten, um ihre Arbeitsplätze zu sichern. Sie sagen, sie seien aber nicht billiger geworden, und trotzdem habe sich Deutschland erholt. Aber stimmt das? Ist also die vonseiten der Linken immer wieder beklagte Lohnzurückhaltung seit der Agenda 2010 eine bloße Illusion? Sie ist es nicht. Von 2003 bis 2013 fielen die Lohnkosten im verarbeitenden Gewerbe gegenüber Frankreich, Italien und Spanien um durchschnittlich 15 Prozent, und der Preis der in Deutschland produzierten Waren fiel in Relation zum Rest der Euro-Zone um fünf Prozent. Das brachte die Wende.
Das betrifft auch den Basar-Effekt. Sie machen aus einer Beobachtung eines fallenden Wertschöpfungsanteils am Wert der Industrieproduktion eine Prognose, denn der empirische Sachverhalt bis dato war ja unbestreitbar und wurde inzwischen in vielen Studien bestätigt. Aber selbst nach 2003 ging der Trend weiter, wie Sie zugeben, wenn auch abgeschwächt. Wo soll denn hier mein Irrtum liegen? Die Lohnzurückhaltung hat den Trend abgeschwächt. Genau deswegen hatte ich sie gefordert. Im Übrigen hatte ich nicht die Globalisierung kritisiert, wie Sie mir unterstellen, sondern die Probleme, die Deutschland damals wegen seiner hohen Lohnkosten damit hatte.
Grünes Paradoxon: Liebe Frau Kemfert, Ihren ellenlangen Ausführungen zum Kalkül der bayerischen Milchbauern entnimmt der Leser leider nicht, was das grüne Paradoxon überhaupt ist: Die Überextraktion fossiler Brennstoffe aufgrund des grünen Säbelrasselns, der angekündigten Marktvernichtung durch neue, klimafreundliche Technologien. "Lieber schnell noch alles rausholen, bevor nur noch grüne Energie erlaubt ist", lautet die implizite Devise. Das grüne Paradoxon erklärt, warum die inflationsbereinigten Rohölpreise seit 1980 heute immer noch deutlich niedriger sind als damals. Das verschweigen Sie. Wieso Sie im Übrigen meinen, man solle dem Ressourcen-Angebotskartell kein Nachfragekartell gegenüberstellen, sondern einen funktionierenden globalen Emissionshandel, bleibt mir ein Rätsel. Der Emissionshandel ist doch ein solches Nachfragekartell. Es ist der zentrale Politikvorschlag, mit dem mein Buch "Das grüne Paradoxon" endet.
Kinderrente: Lieber Herr Rürup, Sie betonen zu Recht, dass die Rentenversicherung eine Versicherung gegen Kinderlosigkeit ist und als solche eine zentrale Errungenschaft der modernen Gesellschaft. Nur sollten Sie dieses Argument nicht in einen Gegensatz zu mir stellen. Diese Interpretation habe ich erstmals in meinem Aufsatz "The Pay-as-you-go Pension System as aFertility Insurance and Enforcement Device" im Journal of Public Economics des Jahres 2004 entwickelt. Obwohl die Rentenversicherung als Versicherung gegen Kinderlosigkeit eine sinnvolle Einrichtung ist, liegt ihr Problem darin, dass sie, wie jede Versicherung, einen Moral-Hazard-Effekt entfaltet, in diesem Fall in Form des Rückgangs der Fertilität. Eine Vollkaskoversicherung erzeugt eine Vollkaskomentalität. Wenn Sie mir vorhalten, ich schlüge mit der Kinderrente eine "Eliminierung der Versicherung gegen die Kinderlosigkeit" vor, verballhornen Sie mich, denn von einem vollen Umstieg war nie die Rede. Ich betone im Gegenteil immer wieder, dass es nur um die Zusatzrente geht, die auch nach der Meinung von Frau Merkel nötig ist, weil die gesetzliche Rente nach bisheriger Art nicht mehr reicht. Wer Kinder großzieht, soll von der Generation der Kinder eine Zusatzrente erhalten, und wer keine hat, soll einen Teil der Mittel, die andere in die Kindererziehung stecken, zur Bank tragen, um sich eine kapitalgedeckte Zusatzrente aufzubauen.
Fiskalische Kosten der Ausländer: Lieber Herr Welfens, Sie verwechseln bei Bonin die Generationenbilanz und die Zustandsrechnung für das Jahr 2012. Was Sie als Varianten seiner Rechnung beschreiben, hat mit der Prognostik zu tun, die er für die Generationenbilanz braucht. Da kommt er auf Nettokosten von 79 000 Euro pro Ausländer im Lebenszyklus.
Ifo hat sich stattdessen nur mit der Zustandsrechnung Bonins befasst, die auf der Basis des sozioökonomischen Panels und des Staatskontos nur das faktische Geschehen abbildet. Dazu wurden keinerlei Annahmen benötigt, wie sich die Ausländerkinder im weiteren Verlauf ihres Lebens verhalten werden. Insofern habe ich mir auch keine Variante von Bonin "herausgepickt", wie Sie schreiben. Bonin kommt, wie es in vielen Pressebeiträgen auch betont wurde, auf 3 300 Euro Überschuss der Einnahmen des Staates über die Sozialtransfers und die Bildungskosten im Jahr 2012. Er sagt selbst, dass sich der Überschuss in ein Defizit verwandelt, wenn man alle Staatskosten abzieht, ohne die Zahl zu nennen. Ifo nennt die Zahl.
Es kommt auf Zusatzkosten von 5 100 Euro pro in Deutschland ansässigem Bürger, also auch pro Ausländer. Zieht man diese Zahl von den 3 300 Euro ab, kommt man auf minus 1 800 Euro. Nach einer ähnlichen Rechnung unter Berücksichtigung aller Einnahmen des Staates ergibt sich übrigens für den deutschen Bürger ein Plus von 200 Euro. Dessen ungeachtet, das sei auch hier von neuem betont, haben Migranten über die Arbeitsmarkteffekte per saldo positive Auswirkungen auf das Realeinkommen der Deutschen. Dass Migranten auch als Wissensimporteure nützlich sind, meine auch ich. Vergleichen Sie dazu bitte mein Interview in der "Zeit" vom 8. Januar dieses Jahres.