Wer bietet weniger?

Im Juni will die EZB die Zinswende einleiten. Doch das Inflationsrisiko ist noch so hoch, dass eine Verschiebung kein Drama wäre. Ein Gastbeitrag.
Hans-Werner Sinn

WirtschaftsWoche, 17. Mai 2024, Nr. 21, S. 41.

Wie geht es weiter mit den Leitzinsen? 2022, als die große Inflation aufflammte, verschlief die Europäische Zentralbank (EZB) die Zinswende und folgte der US-Notenbank Fed erst mit über einem halben Jahr Verspätung. Jetzt aber, da die Inflationsraten stark gesunken sind, dürfte sie nach bisherigen Verlautbarungen bei der neuerlichen Zinswende den Vorreiter machen. Am 6. Juni wird der EZB-Rat entscheiden. Etwas unklarer ist die Situation in den USA, wo sich die Fed am 12. Juni trifft. Während die Inflationsrate der Konsumentenpreise in der Euro-Zone auf 2,4 Prozent zurückgegangen ist, verweilt sie dort bislang hartnäckig bei etwa 3,5 Prozent.

Tatsächlich sind die Unterschiede zwischen den USA und Europa viel kleiner, als es erscheint, denn die statistischen Ämter rechnen unterschiedlich. Der entscheidende Unterschied ist, dass nur in den USA das selbst genutzte Wohneigentum bei der Inflationsberechnung vollständig berücksichtigt wird. Wie früher schon das US-Statistikamt und vor Kurzem auch die Bank UBS ausgerechnet haben, käme man für Europa mit der amerikanischen Berechnungsweise gut und gerne auf einen um etwa einen Prozentpunkt höheren Inflationswert.

So gesehen könnte eine Zinswende der EZB im Juni verfrüht sein. Das gilt umso mehr, als die EZB rechtlich – anders als die Fed – kompromisslos auf die Wahrung der Preisstabilität verpflichtet ist.

Auch andere Aspekte legen Zurückhaltung in der Zinspolitik nahe. So erreichte die um die volatilen Energiepreise bereinigte Kerninflationsrate im Euro-Raum im April noch immer 2,8 Prozent. Die Inflationsrate des deutschen BIP-Deflators, die auch die Investitionsgüterpreise erfasst, betrug im ersten Quartal dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahresquartal sogar 4,5 Prozent. Nicht zuletzt signalisieren die heftigen Lohnerhöhungen der jüngsten Zeit, die in Deutschland häufig im zweistelligen Bereich lagen, dass noch längst keine Entwarnung bei möglichen Zweitrundeneffekten auf die Preise angesagt ist.

Die geldpolitischen Tauben, die im EZB-Rat das Sagen haben, werden solche Argumente beiseite zu wischen versuchen. Viele Euro-Staaten haben riesige Schuldenberge angehäuft, die sich durch Inflation real entwerten lassen. Und es wäre naiv zu glauben, dass der Präsident einer nationalen Notenbank, der sein Land im EZB-Rat vertritt, darüber hinwegsieht.

Wie groß schon in den vergangenen Jahren der staatliche Inflationsgewinn war, zeigt ein Blick auf die staatlichen Schuldenquoten. Nachdem die Staatsschulden der Euroländer bis 2020 bei 99 Prozent des gemeinsamen Bruttoinlandsprodukts (BIP) angekommen waren, gab es während der Inflation der vergangenen drei Jahre einen Rückgang auf 90 Prozent.

Grund dafür war aber nicht etwa eine neue Sparsamkeit. Der Rückgang war einzig und allein im Anstieg der Güterpreise selbst begründet. Der Preisindex des BIP stieg in den genannten drei Jahren nämlich um 14,9 Prozent. Für sich genommen, also ohne Neuverschuldung, hätte dies einen Rückgang der Schuldenquote von den erwähnten 99 Prozent auf 86 Prozent impliziert. Dass es stattdessen nur ein Rückgang auf 90 Prozent wurde, belegt, wie leicht sich staatliche Großschuldner in Zeiten der Inflation tun.

Die Schuldenapostel und Inflationsbeschwichtiger, die sich in den Hinterzimmern der europäischen Machtzentralen tummeln, können auf einen wundervollen Münchhausen-Effekt bauen: Die Verschuldung befeuert die Inflation, die Inflation reduziert die Schuldenquote, und damit entsteht neuer Raum für eine weitere Runde inflationärer Verschuldung.

Importpreise könnten steigen

Die zu erwartende Zinswende birgt zusätzliche Inflationsrisiken für Europa, wenn die USA nicht mitmachen. Dann kommt es vermutlich sofort zu einer Abwertung des Euro, weil das Finanzkapital in die USA drängen und ein Euro-Überangebot am Devisenmarkt erzeugen würde. Nach einer Abwertung würden die Importpreise steigen, und die Exporteure könnten ihre Euro-Preise erhöhen, ohne im Dollarraum Absatzverluste befürchten zu müssen. Beides würde über den direkten internationalen Preiszusammenhang zu einem Inflationsschub im Euro-Raum führen und die staatlichen Schuldenquoten verringern.

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